MITGLIEDER

Text von:
Kurt Lanthaler

Jorgos o stratiotis

"Eigentlich hatte ich auf eine Erklärung gehofft", sagte ich, "und nicht auf eine Geschichte."
"Warten Sie ab, junger Mann", sagte der alte Mann und lächelte, "Geschichten erklären mehr als Erklärungen."
Ich schenkte mir etwas Wasser nach.
"Sie müssen wissen, daß dieser Mann, mein Freund, wenn er Geschichten erzählt, nur wahre Geschichten erzählt, das hat er immer so gehalten. Und auf sein Wort ist Verlaß. Zwei Jahre lang habe ich mit ihm gelebt und gekämpft und mich auf sein Wort verlassen. Jeder kleine Fehler hätte uns den Deutschen ausgeliefert. Und die haben griechische Partisanen sofort hingerichtet. Wenn es nicht schlimmer kam. Also, junger Mann, ist das eine wahre Geschichte."
Ich griff nach einem Zigarillo.
"Und sie hat sich letzten Sommer ereignet", sagte der alte Mann. "Ein junger Mann, nennen wir ihn Jorgos, kam nach drei Jahren Militärdienst nach Hause. Er war an der Grenze zur Türkei stationiert gewesen und war in Schußwechsel geraten, und er war an der Grenze zu Albanien stationiert gewesen und war in Schußwechsel geraten. Und er hatte überlebt, sich nicht einmal einen Kratzer geholt auf seiner jungen Haut. Jetzt war Jorgos, der stratiotis, endlich aus der Armee entlassen worden und fuhr nach Hause. Stieg in Thessaloniki in einen Bus und fuhr nach Serres, wo seine Eltern, seine Verlobte und seine Autowerkstatt auf ihn warteten. Jorgos, der stratiotis, der Soldat also, stieg mit seinem Sack kurz vor Serres aus und ging über einen kleinen Weg durch die Felder auf das Haus seiner Eltern zu. Die Mücken, die in der Gegend wegen der Zuckerfabriken sehr häufig sind, stachen ihn, und Jorgos o stratiotis freute sich darauf, Vater und Mutter und Verlobte in seine Arme schließen zu können. Da fiel einem Falken, der über Jorgos seine Kreise zog, eine Schlange, die er im Sturzflug gefangen hatte und die jetzt hoch oben in der Luft im Flug noch mit ihm kämpfte, aus dem Schnabel und fiel und fiel und fiel auf Jorgos, den Soldaten, der nach drei Jahren zu Vater und Mutter und Verlobter nach Hause zurückkehrte und sich auf ihre Arme, die ihn umschließen würden, freute, und die Schlange fiel auf Jorgos, und ihre Zähne bohrten sich in seinen Hals, und Jorgos, der stratiotis, ging noch hundert Meter weiter und fiel dann vor dem Hause seiner Eltern tot zu Boden."
Draußen vor den Fenstern flog ein Hubschrauber vorbei.


Quelle: Azurro, Roman, Diogenes, Zürich 2001