MITGLIEDER

Text von:
Doron Rabinovici

Suche nach M.

Kurz und kurz und lang - und lang und lang und kurz - und kurz und Mullemann klopft. Hörst du? Mullemann trommelt seine Wunden. Er rührt die Finger im Schmerz. Mullemann pocht um Hilfe. Hörst du? Bleib still jetzt. Horch genau. Kannst du es noch nicht vernehmen? Um dich das Treiben der Gänge, das Tuscheln der Nischen, das Stammeln hinter Wänden und das Stöhnen - ja doch, das Stöhnen - , aber auch die gewandt Stimmlosen und die schlagartig Verstummten und die schweigsam Verschlagenen. Um dich. Hörst du? Horch nicht hin.
Das Ticken der Zeit, das Surren der Klimaanlage oder das Gurgeln der Radiatoren. Autos und Straßenbahnen kannst du in der Ferne ausmachen. Horch nicht hin, lausche bloß meinen Klopfzeichen ans Hohle. Gegen ein Wasserrohr oder die Heizungsleitung oder das Bettgestell. Kurz und kurz und lang.
Manchmal höre ich ihre Stimmen, höre ich ihre Schritte um mich herum. Nichts ist zu sehen. Mullemann liegt reglos an sein Bett gefesselt. Mullbinden, festgezurrt in mehreren Lagen, umspulen den Körper. Kein Bein, kein Glied und kein Gelenk kann sich mehr rühren. Reck ich meine Zunge vor, so leck ich an den Fasern und drehe sie - aufgeschrundet schon - zu Zwirbeln, und der Schmerz spinnt sich in meine Lippen, spannt sich allmählich über den ganzen Mund, als hätte ich - wie einst als Kind - zuviel Zuckerwatte genascht, zuviel von jenen bauschigen Süßspänen gekaut. Saug ich an den Fäden, so schmeck ich jenen Stoff, den ich früher nie gekostet, schmeck ich den Äther, die Medizin und das Spital. Mullemann: Ich liege einsam. Ich lebe im Verband.
Manchmal spüre ich ihre Nähe und fühle sie, nach mir tasten, an meinen Körper greifen, mein Herz abhorchen und meinem Atem angestrengt lauschen. Mullemann morst.
Nichts weiß ich über den Anfang meines Leidens, nichts über den Grad meiner Verwundungen und nichts über die Umstände meiner Verletzung. Keiner Krankheit, die jäh über mich hereinbrach, kann ich mich entsinnen.
Ich liege gefangen in einem Netz von Schrunden, das straff, zum Zerreißen gespannt, über meinen ganzen Körper zieht und ihn - eitrig, narbig - einschnürt.
Stunden mögen vergangen sein seit Mullemanns letzten Klopfzeichen, doch Mullemann klopft wieder. Dies ist sein Tagebuch. Ein Trommeln aus dem Dickicht des Verbands. Einer in einem anderen Bett, in einem anderen Zimmer, wird mich hören. Seine Feder wird im Takt meines Klopfens mitbeben. Er wird der Seismograph meines Pochens, der Regungen und der Erschütterungen sein.


Quelle: Suche nach M., Suhrkamp, Frankfurt a. M., 1997, 104.