MITGLIEDER

Text von:
Elisabeth Vera Rathenböck

MARATHON

Jetzt geht er hinüber, verschafft sich Zutritt. John hat ihn eingeladen, heute vormittags im Plaza. Wäre John gekommen, hätte er ihn eingeladen. Dessen ist er sich sicher. Diese Einladung gilt. Er wird die Party nicht wie ein blinder Passagier besteigen, sondern als ... Pianist an Bord gehen.
Seine Haltung drückt Beharrlichkeit und Sicherheit aus. Das macht ihn größer, denn im Grunde ist er ein kleiner Mensch. Das bemerkt er, als er dem riesenhaften Türsteher nach einem kurzen Gruß die Hand reicht, als würde er jeden Tag vom Majestic ins Dakota kommen und diesem Riesen die Hand schütteln. Nur so erhält man in eine Gesellschaft Zutritt, die so einheitlich aufeinander abgestimmt ist, wie Gäste und Crew, die im Bauch eines Schiffs vor der übrigen Welt abtauchen.
Haben Sie eine Einladung?, fragt der Mann an der Tür.
Aber ich bitte Sie, antwortet der Biograf. Sie wissen doch, wer ich bin?
Haben Sie eine Einladung, wiederholt der Mann.
Er hat offensichtlich ein schlechtes Personengedächtnis, denkt der Biograf.
Aber Sie brauchen eine Einladung an Bord!
Ich bin der Pianist, antwortet der Biograf und streckt seine Hände vor, als identifiziere der Stewart an der langen Schlankheit seiner Finger die Vertrautheit mit der Tastatur des Klaviers an Bord. Gegen das Hämmern im Bauch des Schiffes werden diese Hände anspielen, als müsste den Maschinen eine neue Melodie beigebracht werden.
Der zuerst noch harsche Türsteher in der Uniform eines Stewarts wird plötzlich freundlich. Es liegt aber nicht an den Händen des Biografen: Ist das nicht eine Krawatte von der Quarry Bank High School?
Jaja, ja natürlich, was glauben Sie?
Sie sind wohl ein Schulfreund von John?
Ja, exakt, wie konnten Sie das nur erraten?
Na, wegen der Krawatte!
Ja, natürlich, wie dumm von mir. Die Krawatte.
Schon steigt er über die Bordkante, mischt sich mit Gästen. Nimmt ein volles Glas in die Hand und löst sich in der Menge auf. Das Klavier wird geduldig warten, bis die Maschinen ihr Hämmern in die Wogen vergraben. Erst dann würde er leicht wie eine Möwe im Wind mit seinem Spiel beginnen.
John ist ein Kapitän und der Kapitän wischt mit einem trockenen Tuch den Sextanten. Der Gradmesser zeigt die sechziger Jahre an. Für die Träne in seinem Augenwinkel hat er keine Ecke des Tuches übrig. Der Kompass beginnt sich zu drehen. Die magnetische Flüssigkeit kommt in Bewegung, als das Schiff ausläuft. Nun gibt es kein Aussteigen mehr, nur ein Winken tröstet die Lichter, drüben am Festland, die kleiner und kleiner werden, bis sie der Pianist aus den Augen verliert. Die Maschine fährt an. Eine Gestalt läuft am Kai entlang, springt auf die Gangway, als das Schiff schon abgelegt hat. Sie schafft den Sprung mühelos und kommt keuchend an Deck. Es ist ... die Läuferin.
Was macht eine über dem Wasser, die sonst am Boden läuft?
Der Biograf registriert sie teilnahmslos. Lieber taucht er ab im Bauch des Schiffes, taucht auf zwischen den Gesprächen der Gäste dieser Fahrt, kämpft sich durch Haltsuchende, die im Stampfen der Musik in die Mitte drängen, eine schlingernde Fracht. Er gelangt an die Reling und bestellt sich einen Wodka, trinkt ihn zu schnell, bestellt noch einen und betrachtet die Tanzenden ... Matrosen, die schüchtern die Hüften wiegen, die dünne Haut der Jugend im Gesicht, vor ihnen drei Mädchen in blumigen Kleidern mit Knöpfen vom Hals bis zum Schritt, die unter niedergeschlagenen Wimpern zu den Matrosen schielen. Da sind Hippies in abgetakelten Armeeuniformen, ihre langen Bärte sind brüchig, ihre Augen trauern hinter Sonnenbrillen, ihre Beine in Cowboystiefeln stampfen stumpf auf den Boden. Was die wohl an Bord zu suchen haben? Neben ihnen wiegen sich langsam Ladies, zerrissene Minis, Perücken rot bis lila, Stiefel mit Schäften bis unter die Knie, Krokodilhaut, Schlangenmuster, knallrote Lacktaschen. Da sind Damen mit Pelzmänteln, darunter Bikinis, sie haben Öl auf der Haut, tragen Schuhe mit hohen Absätzen, einige davon scheinen locker zu sein, Zigeuner unterhalten sich mit Chinesen, beißen in Pizzaecken. Da ist eine schneeweiße Frau und eine schwarze, da sehen einige wie Brigitte Bardot aus und andere wie Marilyn Monroe. Da sind einige wie James Dean, andere wie Bing Crosby oder Jimi Hendrix. Und da ist eine, nur eine mit langen schwarzen Haaren. Eine Japanerin im weißen Hosenanzug, die die Menge durchquert und immer nur die eine Frage stellt: In welcher Sprache träumen Sie?

Quelle: MARATHON, Novelle, 2001. Edition Pangloss Nr. 17, Wels 2001