MITGLIEDER

Text von:
Helmut Schiestl

Kindheit

Ich sitze mehrere Stunden lang über den Radioprogrammen meines Zeugungstages. Was hatten sich meine Eltern wohl angehört, als sie sich daran gemacht hatten, mich zu zeugen. Einen lustvollen Moment zu genießen. War es die Oper Lohengrin, die das eine Programm des Senders Rot-Weiß-Rot ausgestrahlt hatte oder doch die Tanzmusiksendung im anderen? Ja, wenn sie überhaupt Radio gehört hatten, oder ob sie nicht viel mehr ins Kino gegangen waren, an jenem denkwürdigen - für mich denkwürdigen - und noch warmen, wie mir der Wetterbericht jenes Tages verrät, Septemberabend. Oder was immer sie auch taten, es wird mir wohl für immer verborgen bleiben. Denn selbst wenn ich mich dazu überwinden würde, sie danach zu fragen, sie würden es mir höchstwahrscheinlich nicht mehr sagen können, weil sie es ganz einfach nicht mehr wissen. Ich sehe noch weiter, blättere noch weiter in der Zeitung, lese die Annoncen und Stellenangebote. Ich will wissen, was da alles so gelaufen ist an jenem Abend, an dem ich gemacht worden bin. Wie das Wetter war. Wer gestorben ist, wer zum Beispiel eine Auszeichnung bekommen hat. Welche Autos damals in Mode waren. Die großen Schlitten, wie ich sie noch von den Haas-Brause-Bildchen her kannte, die alten Opel, Simca, Ford und Renault, die hinten Abgeschrägten, um ja den Volkswagen nicht zu vergessen! Ich könnte mir vorstellen, meine Lebensgeschichte anhand der Automobilgeschichten nachzuvollziehen. Ich würde am liebsten manchmal noch heute über den vielen kleinen bunten Bildchen sitzen und über meine Lebensgeschichte nachdenken, oder auch über den alten Micky-Maus-Heften aus jener Zeit. Nur so kann ich mir meine Lebensgeschichte zusammendenken. Nur anhand dieser Dinge kann ich in meiner Geschichte blättern.

Quelle: Porträt des Schriftstellers als armer Wurstel, Edition Löwenzahn - Skarabäus, Innsbruck 2001