MITGLIEDER

Text von:
Hilde Schmölzer

Der Vater hat den Krieg inzwischen verinnerlicht

Der Vater hat den Krieg inzwischen verinnerlicht, der Krieg sitzt drinnen im Vater und wechselt dort sein Gesicht. Das rückwärts gewendete Leben des älter werdenden Vaters ist in Krieg getaucht, denn Kriegserlebnisse sind die stärksten, lebendigsten, berührendsten. Keine Erlebnisse, so sagt der Vater, können sich an Stärke und Intensität mit Kriegserlebnissen messen, wenn es um nackt Überleben geht, das Sterben so nah und Kameradschaft wirklich Kameradschaft ist im Angesicht des Todes. Der Vater, dem es um diese wirkliche Kameradschaft geht, eilt von einem Kameradschaftstreffen zum anderen, wo man der alten Zeiten gedenkt, die alten Geschichten erzählt und die alten Lieder singt. Kurzlebig war seine Betroffenheit über das furchtbare Menschensterben, die absolute Zerstörung, den apokalyptischen Weltenbrand. Kurz die Empörung, die Wut über die betrogenen Hoffnungen. und überhaupt, meint der Vater, sich in Kriegserinnerungen hineinsteigernd, ist Vergewaltigung das geringere Übel, das normale Übel sozusagen, das auch von Frauen erstaunlich gut ertragen wird, und dann, seine Stimme senkend, denn schließlich handelt es sich dabei um einen intimen, einen delikaten Bereich, zitiert er Beispiele von ihm bekannten betroffenen Frauen, die diese normale Begleiterscheinung des Krieges mit bewundernswerter stoischer Ruhe über sich haben ergehen lassen.
Aber der Vater hat auch noch andere überzeugende Beispiele bereit. Stalin, meint er bei anderer Gelegenheit in etwas größerem Familienkreis, Stalin ließ mindestens genauso viele Menschen töten wie Hitler, aber das werde niemals thematisiert, ruft der Vater herausfordernd in die ergeben lauschende Runde, in der zwar lediglich die zwei Schwestern des Vaters bestätigend Jaja murmelnd mit ihren Köpfen nicken, aber auch niemand eine Gegenstimme erhebt.
Nur Eva, die Muttertochter, aufsässig, widerspenstig und schwer zu behandeln, bildet einen Störfaktor in diesem Familienidyll. Ihre Kritik am Vater und am Vaterhaus ist ein Sakrileg und ketzerisch, Die Muttertochter stellt das Vaterhaus in Frage, sie hält sich nicht an seine Regeln und respektiert nicht, was unten und was oben ist. Aber das Vaterhaus besitzt gut funktionierende Schutzvorrichtungen, denn selbstverständlich wird es sich von ihr, der Muttertochter, nie in Frage stellen lassen. Gleich wird sie als unzurechnungsfähig erklärt und daher nicht als ernst zu nehmen. Der Vater lacht ungläubig und ratlos, offen und entblößt stehen die Zähne in seinem Gesicht, gelbe, lange, einst durch Krieg und Kriegsgefangenschaft löchrig gewordene, inzwischen aber wiederhergestellte Zähne, und das, so weiß Eva inzwischen, verheißt nichts Gutes. Alle anderen schütteln ihre Köpfe über das fehlgeleitete Kind einer fehlgeleiteten Mutter, mit dem es kein gutes Ende nehmen kann. Allmählich mischt sich auch in das Lachen des Vaters Besorgnis. Eva muß verrückt geworden sein, sie bedarf so wie die Mutter der psychiatrischen Behandlung, muß doch ihre völlig aus den Fugen geratene Psyche wieder in den Normalzustand zurückgebracht werden.
Nicht immer allerdings hat sich der Vater trotz steigender Besorgnis unter Kontrolle, manchmal rutscht ihm die Hand aus und trifft Eva mitten ins Gesicht, was die Achtzehnjährig mit Genugtuung erfüllt über die Wut des Vaters, dessen Schläge leichter zu ertragen sind als sein Lachen.

Quelle: Das Vaterhaus. Eine autobiografische Erzählung. Edition Doppelpunkt Wien 2000