MITGLIEDER

Text von:
Thomas Stangl

Auszug aus "Ihre Musik"

Ich habe einmal nah an dem versteckten, nur zu besonderen Gelegenheiten wiederzufindenden Platz in der Leopoldstadt, zwischen Karmeliterviertel, Praterstraße und Donaukanal gewohnt, wahrscheinlich nur für wenige Tage (oder Nächte), in einem hohen, alten, halb in den Berg hineingebauten Haus, das zum Großteil leer stand, in einem der obersten Stockwerke; wenn ich die Treppen hinablief, konnte ich durch die Spalte der bloß angelehnten Türen ins Innere der verlassenen Wohnungen schauen, einen unbestimmten Lichtschein auf den Parkettböden ausmachen, mir die Wege durch die Zimmerfluchten und die wenigen zurückgebliebenen Einrichtungsgegenstände (oder sind es nur alte Schuhe, vergilbte Bücher, rostige Pfannen und Spiegel, zerfledderte Fotoalben, sind es nur die weißen Stellen an den Wänden, wo Bilder hingen, die helleren Stellen an den Parketten, wo Möbel standen) vorstellen; ohne daß ich aber je wußte, ob sich nicht doch noch Bewohner hier versteckt halten und das Wort oder gleich eine Waffe gegen mich richten konnten. Eine schmale gekrümmte Gasse führt mich vom Eingang dieses Baus zu dem Platz, der sich dem Blick ganz überraschend öffnet und nun weitläufiger erscheint als je; ein großes Oval wie die Piazzas in manchen italienischen Städten, in seiner Mitte steht ein riesenhafter vergessener antiker Tempel. Der Anblick ist atemberaubend, auch ich, der so oft hier in der Nähe herumgestrichen ist, habe von diesem Tempel, dessen Form eher mittelamerikanischen als europäischen Monumenten gleicht, nichts gewußt; es wäre ein einmaliges Touristenziel, doch gerade weil er von Touristen und von jeder öffentlichen Aufmerksamkeit verschont geblieben ist, hat er etwas von seiner alten sakralen Bedeutung bewahrt oder noch eher, anstelle der alten eine völlig neue Bedeutung gewonnen; inmitten von Wien ist es ein völlig einsamer, unbekannter Ort, fremder als alles, was in fernen Ländern gesucht werden kann. Hier sind (außer ein paar gleichgültig stumpfen Anrainern) keine Menschen; nur riesige Geier ziehen ihre Kreise über die weiten, leicht gewölbten Freiflächen rund um den Tempel, der in einem Stadium des sehr langsamen Verfalls ist und unzugänglich für Besucher, vielleicht überhaupt ohne Innenraum; manchmal lassen sie sich am Boden nieder und reißen einen Fetzen Fleisch von einer der unzähligen toten Tauben, die hier liegen. Zunächst scheint mir der Anblick der Geier erhaben; entfernte Weltgegenden schießen in einem Bild zusammen; als wäre ich nicht nur in Europa sondern zugleich in der Lichtung eines Dschungels in Chiapas oder Guatemala und auf einer langgezogenen, fast leeren indischen Landstraße, mit verwesenden Tieren da und dort am Straßenrand, auf denen die Raubvögel hocken: die Natur und die Geschichte (oder verschiedenste, bislang voneinander getrennte Geschichten), Tod und Leben (oder eher, Tod und Wahrnehmung, Aufzeichnung) treffen sich, für einen fragilen Moment der Gleichzeitigkeit, an diesem ganz bestimmten Punkt, jetzt. Dann ekelt mich vor diesem Leichenfeld: schwarze und graue Federn, zerquetschte, wie überfahrene Taubenleiber, Köpfe mit roten Augen, blutiges Fleisch und Eingeweide; auch tote Säugetiere, Mäuse oder Kaninchen, sind vereinzelt zu sehen: ich frage mich, ob man die Geier mit diesen Tieren füttert, ob sie von Menschen, den Angestellten irgendeiner zuständigen Behörde, frühmorgens hier zum Gefressenwerden abgeladen werden; das Schlimmste ist, daß manche der Tauben noch leben, zwischen den Kadavern und über die Kadaver (mit ihren rührend unbeholfen wirkenden Taubenbewegungen und dem rhythmischen Nicken des Kopfes) herumwandern oder ruhig, mit aufgeplusterten Federn und eingezogenem Hals, wie friedliche dicke alte Tanten, dasitzen; noch heute werden sie getötet und gefressen werden. Ich weiß es, und sie wissen es nicht; sie könnten davonfliegen und tun es nicht, ich kann sie nicht warnen.

(Ausschnitt aus: Ihre Musik, Roman, Graz 2006.)