MITGLIEDER

Text von:
Roland Steiner

Marcuse, 1955

(…) Die mit Mahnworten punktierte Hand auf einem violettroten Leistenstreifen, eilte er vom Schweinsbraten in die allgemeine Ambulanz, durch Sonntagnachmittag, 32 Grad. Den Wartesaal vereiste eine Fernsehrichterin. Eine Hautambulanz gibt es hier nicht, sagte die erste Schwester. Die Ärztin bat ihn, sich auf dem Untersuchungstisch hinter einem Paravent aus milchigem Plexiglas freizumachen. „Das gehört der Urologie“, sagte sie. Ehe er den Stoffgürtel schließen konnte, trat die zweite Schwester vor ihn und fragte, ob er sich erinnere. „Hallo“, antwortete er, „Marcuse sagte-, egal.“ Unter dem Leistenstreifen, erklärte sie, sei ein mächtiger Abszess entstanden. In der Wartehalle hämmerten die richterlichen Blicke. „Der Urologe hat fertig operiert“, rief die Ärztin über den Ambulanzlautsprecher. „Die Narkose sparen wir uns“, flüsterte dieser, während er das Skalpell ansetzte, „auf einen regulären OP-Termin müssen Sie warten“, sagte er, schnitt und drückte Eiter und Blut oder Tiere aus der Leiste, ambulant könne er nicht nähen. Nach einem Nein auf die Frage nach seiner Konfessionszugehörigkeit und dem Ja, ob er den Namen schon immer getragen hätte, wurden ihm Befund und Rezepte ausgehändigt, ehe er den rosa Stoffgürtel schließen konnte.
Beschnitten ging er in den Tiergarten, wo er lange vor der Sozialsuhle der Panzernashörner weilte, der Attraktivität, die von einem Dunghaufen ausgeht. An seinen Beinen sind keine Drüsen, deren Sekrete die Spuren markieren, seine Drüsen verstopfen leicht und müssen häufig geöffnet werden. Dann trabte er vorbei am Grabstein-Diskonter, dem Geschäft für Trauerfloristik, passierte die bewachten Müllhalden und ABC-Produktionsstätten und ging in die Stadt, von dort aufs Land zurück.
In dem gelben Plastiklavoir seiner Geburt saß er nackt, spritzte Betaisodona ins Haargestrüpp und beobachtete die Rostausdehnung am Skrotum, als sie die Badezimmertür öffnete, um den Verlauf seiner Intimsphäre zu kontrollieren. Sonst unauffällig, stellte Mutter fest. Geschnitten faltete er seine Kleidung, stopfte sie in die Waschmaschine und verließ ihr Haus in einer weiten Unterhose mit dem rosa Stoffgürtel. (…)

Quelle: Unter Haltungen – stehend. Prosa, Arovell Verlag: Gosau-Salzburg-Wien, 2008