MITGLIEDER

Text von:
Liesl Adam

Einfach Majoran

Anna B. bezog eine kleine Rente von der Sozialversicherung. Von dieser hätte sie recht und schlecht leben können, wäre sie keine Raucherin gewesen und hätte fast jeden menschlichen Kontakt sein lassen. So aber kostete die Straßenbahn Geld, Kaffee und Kuchen ziemlich viel Geld, und Zigaretten sehr viel Geld. Anna B. mußte fallweise verdienen, indem sie irgendwo aushalf. Was ihr Gelegenheit zu menschlichem Kontakt bot. Kein schlechter Kreislauf, dachte sie.

So lernte sie immer wieder Menschen kennen, die sogenannte "Arbeitnehmer" waren. Sie konnte studieren, was nicht mehr ihr Problem war: den Krankenstand. Wie sie krank waren oder sich krank fühlten oder krank spielten; sich rechtfertigten vor Mitarbeitern und Chef; die Krankheit vernachlässigten , um eine jemandem wichtig scheinende Arbeit fortzusetzen; oder sorglos Krankheiten erfanden, wenn wichtige oder mehr als übliche Arbeit zu verrichten war.

An einem bitterkalten, nassen Apriltag ging Anna B. nach langen Jahren das erste Mal zum Arzt. Sie wurde heuer ihre Bronchitis nicht los, trotz Inhalationen und Umschlägen, die bisher immer halfen. Der Arzt verschrieb Penicillin, und Anna B. legte sich ins Bett.

Nach einer Woche fühlte sie sich viel besser. auch das Wetter schien freundlicher zu werden. Nur in ihrem linken Ohr und in der Gegend des Kehlkopfs hatte sie Schmerzen. War das Penicillin nicht mit allem fertiggeworden? Stellte sich nun ein ernstes Leiden heraus? Eines von denen, das sie schon längere Zeit vermutet hatte? Einen Moment lang wollte sie um die Ecke zum Arzt laufen. Sie sah es wie einen Film vor sich: Überweisungsschein, Röntgen, Medikamente, Bestrahlungen, Operation.

Quelle: Forum 144/46