MITGLIEDER

Text von:
Beatrice Simonsen

dritter bezirk puzzle

die unermüdlich freundliche chinesische verkäuferin vom billa ecke neulinggasse ungargasse sitzt im stets überfüllten wartezimmer unseres hals nasen ohren arztes in begleitung eines bizarren kleinen herrns der einen schwarzen anzug trägt der weißhaarige mann der mir nachts am fahrrad mit schweren paketen beladen begegnet lässt nachmittags den rolladen der nahen wäscherei herunter der fleischhauer hat zu und nicht mehr aufgesperrt ebenso wie das reformgeschäft daneben nach einem hundesalon hat sich jetzt eine fahrradwerkstatt dort eingenistet mit einem zärtlichen reparateur im reformgeschäft dümpelt eine bezirkseigene agenda vor sich hin das blumengeschäft ist in lieblose hände übergegangen und hat endlich zugesperrt nur die trafik floriert und die trafikantin ist blond wie eh und je der bücher müller mit seinen kaiser franz joseph büchern hat den umbau vom altvatrischen zum neumodischen nicht überlebt der verkäufer mit den über die glatze gelegten haaren der uns mütter mit zweideutigem lächeln bediente ist beim wolfrum in der innenstadt wieder aufgetaucht  der langhaarige mann mit den prallen billa sackerln serviert im tunesischen lokal cous cous die neu eröffnete bar nehmen wir zu beginn freudig an bevor sie verstaubt ins nichts versinkt susi’s eck ist publikumsmäßig ebenso indiskutabel wie die konditorei gegenüber der türkische änderungsschneider greift mir ans knie der russische schuster ist eine zeit lang das reinste glück für verlorene schlüssel und verliert plötzlich das gesicht die frau mit dem grauen beagle in der hundeauslaufzone linke bahngasse die jedes frühjahr während der ersten warmen tage bis ins fenster herein stinkt ist die logopädin meiner kinder ihr mann und ihre tochter sind an demselben hund zu identifizieren aus der veterinärmedizinischen fakultät gegenüber aus der man abends manchmal die kühe brüllen oder die pferde wiehern hörte ist die universität für musik und darstellende kunst geworden mit einem innenhof voll ineinandergreifender klänge der mann der abends am balkon mit offenem bademantel eine zigarette raucht lässt seinen schwarzen hund täglich vor unserem haus auf die straße scheißen und geht keinen einzigen schritt weiter als die zwei häuser in der rechten bahngasse bahnaufwärts sodass der hund an der leine wie ein strafgefangener nicht mehr als fünfzig schritte hin und fünfzig wieder zurück zweimal am tag zurücklegt die scheiße wird von vorüberfahrenden autos per reifen in gleichmäßigen abständen auf die straße getupft angeblich hat jemand in der derselben straße eine ziege spazieren geführt die ich aber noch nie gesehen habe dafür aber mein mann und meine tochter auf meinem täglichen gang zur arbeit beobachte ich einen mann der im winter morgens im goldenen mercedes mit deutlich sichtbarem presse schild bei laufendem motor den wagen vorheizt während seine frau einige minuten später im nerzmantel auf die straße tritt auch kommen mir täglich frühmorgens zwei klosterschwestern entgegen von denen immer die kleinere schweigend vorweg geht und die größere lächelnd ebenso schweigend hinterher von meinem fenster aus sehe ich wie der arzt mit seinem fahrrad hin und her fährt auf patientenbesuch und manchmal winkt er zu mir ins fenster hinein sein sohn holt unseren täglich morgens zu hause ab um mit ihm gemeinsam in die schule zu gehen die frau die mit zwei töchtern unsere gasse heraufschiebt kreuzt später im kindergarten meinen weg und es kommen über die jahre noch zwei söhne nach ihre älteste tochter ist tänzerin eine auffallende junge frau mit einem ätherisch strahlenden gesicht während die jüngere schwester etwas konträr entgegengesetzt bodenständiges an sich hat und biologie studiert die wirrhaarige frau mit den drei volksschulkindern auf fahrrädern ist jahre später im gymnasium die mutter des besten schulfreundes meines anderen sohnes inzwischen habe ich auch noch eine tochter und es gibt kaum jemand den ich nicht kenne in der näheren umgebung im sommer liegt das reisnerstraßenviertel wie ausgestorben in der heißen sonne da und der asphalt wird klebrig unter den füßen dann sind die mütter und kinder verstreut im wald und im weinviertel in ober und niederösterreich oder sonst wo und schauen ins grüne während die väter in der aufgeheizten stadt ihre arbeitsplätze verteidigen nach dem sommer ist das dann ein einziges winken und hallo und die kinder laufen einander gebräunt und gut erholt in die arme und die mütter schleppen wieder die einkaufstaschen nach hause und lachen noch so frisch bevor der winter kommt der modenapark ist der schmelztiegel aller nahen familienverhältnisse in dem sich spreu vom weizen trennt die derzeitigen roma die früher zigeunerkinder waren tauchen erst abends auf wenn die weißhäutigen kinder schon gebadet und gefüttert werden früh schon scheiden sich die gewohnheiten der dunkelhäutigeren kinder von denen der hellen gefördert von den separiert sitzenden müttern es gibt keine überschneidungen oder anhaltspunkte diesbezüglich im dezember steht hier der christbaumverkäufer aus dem waldviertel und friert sich die füße ab und ist froh wenn sich ein paar buben hartnäckig durch die bäume wurschteln um auch bei eisesglätte tore zu schießen dann zieht der christbaumverkäufer seine dicke jacke aus und schießt mit den buben um die wette bis kundschaft bedienung reklamiert oder mütter die buben aus den tannenzweigen hervor und nachhause zerren ...

(Ausschnitt. Beatrice Simonsen, 2005 bis 2013)