MITGLIEDER

Text von:
Nadine Kegele

Blaue Augen zum Selbermachen (Ausschnitt)

Es ist verlogen, dass ich sie duze, Mia Maresch nennen, das sollte ich sie. Frau Dir. Dr. Maresch hat die Fotos gebracht. Der Dicke hat mir die Alben aus dem Kofferraum geborgen, wie einen Schatz.
    „Pleasure, little treasure“, sagte er.
    Er wusste nicht, was er da sagte.
    „Everybody’s looking for a reason to live“, sagte ich.
    Er wusste nicht, was er sagen sollte.
    Nun liegt der Schatz unter meinen Händen, ich suche mich darin.
    Finde mich nicht.
    Wenn ich mich nicht finde, dachte ich, dann – kann es sein, dass es mich nie gegeben hat, wenn es mich nie gegeben hat, ist das alles nicht wahr, wenn das alles nicht wahr ist, wird alles gut.
    Fotos können zaubern. Mia Maresch trug keinen Badeanzug, sie trägt einen, und die Schwimmbatterien der Schwimmweste des grauhaarigen Mädchens, das ich war, sind auch nach Jahrzehnten noch rund und prall, wie soeben aufgeblasen. Fotos sind immer jetzt und die Toten darauf unsterblich. So gesehen werde ich ewig leben, das ist die gute Nachricht, doch es gibt keine gute ohne schlechte. Die Spiegelung des Kopfs im Fensterglas nickt mir zu.
    Die Spiegelung des Kopfs im Fensterglas trägt ein verschwommenes Gesicht. Das verschwommene Gesicht hat wimpernlose Höhlen anstatt der grünen Augen, die ich kenne an mir. Und wo entblößte Zahnreihen eines Tages nicht mehr zu grinsen aufhören werden, befindet sich jetzt noch mein Mund. Auf dem Mund liegt meine Hand. Die Lippen meines Mundes sind vier Finger breit und wie ein Briefschlitz so schmal. Der Briefkasten könnte mir danach noch nützlich sein, denke ich. Schön wär’s.
    Der Kopf wirft meine Hand ab. Meine Hand fällt aus dem Fensterglas heraus und zurück auf den Fotokarton, aus dem schäumende Wellen über die eingeschnittenen Ränder hinweg an Land kriechen wollen. Der Wind bläst die weißen Wellen zurück ins Meer.
    Im Meer verstecken Männer ihre zum Reißen gespannten Bäuche im Wasser, waten hinaus, schwerfällig (wie im Sumpf, bleiben stecken), bleiben stehen, stützen ihre Arme in die wulstigen Seiten, gewöhnen sich an die Aprilfrische des adriatischen Meers. Sie benetzen: ihre Schultern, ihre Arme, ihre krause, grauhaarige Brust, manche: werfen sich das Wasser mit Händen (Riesen wie Ruderblätter) ins rasierte Gesicht, dass es nur so klatscht. Dann: waten sie weiter, waten hinaus, schwerfällig (wie in einem Moor, bleiben noch einmal stecken), bleiben noch einmal stehen, ihre Wampe: legen sie auf der Wasseroberfläche ab (wie auf einem Tisch), das Wasser ist: Milliarden Kubikmeter groß, einen jahrelangen Bauch trägt es mit Leichtigkeit.

Ausschnitt aus Blaue Augen zum Selbermachen, Roman in Arbeit