MITGLIEDER

Text von:
Elisabeth Strasser

Auszug aus "Martin und der Klang des Schnees"

Blickte man zu den Lichtkegeln der Lampen hoch, so wurde deutlich, wie viel Schnee fiel. Große Flocken. Kein Schneegestöber, dazu fehlte der Wind. Von ihrem leichten Gewicht beschwert, segelten die Flocken zu Boden, auf die Dächer der geparkten Autos, auf die Straße und den Gehsteig, auf die Sträucher daneben und auf Martins Haar und seine Schultern. Er ging langsam, wie in Trance. Kein Auto fuhr an ihm vorbei, es war nahe Mitternacht. Er schaute nicht auf seine Spur zurück, er sah vor sich die unberührte, im Licht der Straßenlampen glitzernde weiße Fläche auf dem Gehsteig, die er Schritt für Schritt betrat und Schritt für Schritt wie eine neue Welt eroberte.
Mit einem Mal stand er still und lauschte. Er lauschte dem Klang des Schnees. Ein kaum vernehmbares Rascheln, wie der Flügelschlag eines Schmetterlings, wenn Flocke für Flocke auf die Büsche in Höhe seiner Ohren sank. Er stand still bis ihn ein laut schabendes Geräusch aufschreckte, ein Fauchen hinter ihm, das sich beständig näherte. Er wandte sich nicht um. Er ging weiter, ein wenig schneller nun, und wurde bald eingeholt und auf der Fahrbahn neben ihm überholt von dem Schneepflug, dessen oranges Blinken ein surreales Licht auf alles um ihn und auf ihn selbst warf. Der Schneepflug zog eine breite, feuchtglänzende Spur hinter sich, an die Schleimspur einer Riesenschnecke musste Martin im Augenblick denken. Ein Auto folgte dem Schneepflug in einigem Abstand, langsam, auf dem nun schneefreien Teil der Straße. Es hielt ein paar Meter vor Martin an, ließ sich von ihm einholen, dann öffnete sich die Tür auf der Beifahrerseite. „Magst du mitfahren?“ Die Bassstimme eines großen, kräftigen Mannes, der er war. Nun wurde Norbert Obermanns Gesicht erkennbar, das so wenig zu seiner übrigen Gestalt passte, denn es war ein geradezu feingliedriges Gesicht mit flinken, wachen, freundlichen Augen, um die ein Netz feiner Falten lag. – Der Schnee war fort und die Nacht und der Schneepflug. Die Straße war belebt, wie üblich um vier Uhr an einem Nachmittag, die Büsche am Straßenrand trugen sommerliches Sattgrün und Martin stieg zu Norbert Obermann ins Auto. […]

Beginn des Romans „Martin und der Klang des Schnees“, erschienen 2013 im Resistenz Verlag