MITGLIEDER

Text von:
Eva Holzmair

Textprobe aus „Heimkommen“

Auch Vaters Vater musste schon Schnee schaufeln, um Gleise freizulegen. Den Hunger stillte er mit gefrorenem Brot. Draußen auf freier Strecke. Zu Eisklumpen erstarrtes Schmalz dazu. Ein ausgezehrtes Männlein, das an Magenkrebs erkrankte und an einem Herbstvormittag verstarb. Das Gebimmel der Totenglocken drang ins Klassenzimmer der Dorfschule. Monoton, unerbittlich. Die Schüler wussten, wem es galt: dem verschuldeten Bahnmeister, dem Fotonarren, dem mit den Filmrollen, die bei der Pfändung weggeworfen worden waren. Buchstäblich. Aus den Fenstern in den Hof, auf die Wiesen und Äcker. Da liegt dem Ingenieur sein Geld, sagten die Bauern, wenn sie wieder einmal eine Filmrolle aus dem Boden pflügten. Dass die ineinander geknäuelten Negative die einzigen Bildzeugnisse ihrer Dorfwelt waren, sahen sie nicht. Dafür fehlte ihnen der Blick. Streuobstwiesen wurden abgeerntet, nicht fotografiert. Ein Pflug war notwendig, kein Schattenriss im Gegenlicht. Kinder wurden zur Arbeit gerufen, nicht zum Gruppenbild aufgestellt, außer in der Schule, wo nun das Zügenglöcklein zu hören war. Der Lehrer schickte die beiden Bahnmeistersöhne heim. Ihr Schulweg war der längste. An diesem Tag war er endlos. Die Buben hetzten durchs Dorf, vorbei an der Kapelle, aus deren Turm die Glocke rief, vorbei an der Hühnerfarm, vor der sie sonst so oft stehengeblieben waren, wegen des Lastwagens mit den hohen Reifen, die Allee hinauf zur Villa, die nicht mehr ihnen gehörte, in der sie nur geduldet waren, eingemietet in zwei Zimmern, in einem davon der Tote.

(Quelle: Heimkommen, edition moKKa, Wien 2014)