MITGLIEDER

Text von:
Zdenka Becker

Hautnah

Die Haut ist mein teuerstes Kleid, meine Hülle, mein Schutz, mein Aussehen. Empfindsam ist sie, fähig die kleinsten Schwingungen von außen wahrzunehmen, mit Poren und Härchen durchsetzt, mit feinsten Antennen ausgestattet. Hautnahe Erlebnisse berühren, erfreuen, verletzen. Zwischen mir und der Außenwelt die Haut, mein teuerstes Kleid, das mich beschützt und warnt, das Freude und Schmerz durchläßt.

In der Sprache, die einmal meine war, heißt Liebe „láska“. Ich suche sie hier und überall. Unermüdlich. Den Hauch der Wärme, das zarte Kribbeln, den Duft und die Berührung, Sicherheit... Wenn sie es einmal erlebt hat, vergißt die Haut dieses Gefühl nie mehr... Worte... ja... die Worte kann man vergessen, aber an die Berührung und den Duft erinnert sich die Haut ewig. Sie ist süchtig danach. Wie wäre es sonst möglich, daß wir immer wieder imstande sind, auf neue Düfte, neue Berührungen und auf neue Lieben zu hoffen?


* * *

Seit es mir bewußt ist, daß es für immer so bleiben wird, daß die anderen sofort, nachdem sie mich sprechen gehört haben, fragen werden, woher ich komme, denke ich, daß mein Beruf Ausländerin sei. Für immer und ewig. Ich bin hier allein, kein Mensch spricht so, wie ich, keiner stößt die Laute so hart und kurz aus sich wie ich. Meine Aussprache ist die Erinnerung an meine verlorene Heimat, sie ist die Flucht nach vorne, ein Brandmal, eine Tätowierung, der ich davonzurennen versuche. Ich lebe in einer fremden Welt ohne Land und ohne Volk, benütze Worte, die nicht meine sind.

Ost und West. Ein Gefälle, das ich hinabgerutscht bin. In ein Gefäß, in dem ich bade, in dem ich mich häute, aus dem ich wie neugeboren aussteige. Nackt. Ein anderer Mensch. Mit meiner neuen Sprache berühre ich das Land. Ich lasse es auf der Zunge zergehen und schmecke das Süße, das Salzige, das Bittere... Ich schmecke das Land, das mich vielleicht eines Tages aufnehmen wird. Wenn ich es will. Will ich es? Die Ohren nehmen die Töne wahr. Lieblich und schrill. „Gefällt es Ihnen bei uns?“ Bei euch? Bin ich nicht auch... bei uns? Die Antwort... meine Sprache, ein Paradiesvogel im Dschungel der Großstadt, schlägt hilflos mit den Flügeln. Wohin mein Wort fällt, drehen sich die Augen nach mir um.

Verblichene Bilder meiner Kindheit tief in mir begraben. Deutsch, die Baumrinde rund um mich, beschützt sie. Ich schweige in meiner fremden Sprache, die für mich zur zweiten Haut geworden ist. Sie umhüllt die erste, die feine, verletzliche, bildet einen Schutzwall, wie ein Panzer hält sie mich zusammen. Wenn ich nach draußen gehe, schütze ich meine dünne Haut mit einem Panzer aus Baumrinde. So fühle ich mich sicher.
Slowakisch, meine Muttersprache, verbirgt sich unter dieser Rinde. Sie ist weich und anschmiegsam; sie erinnert mich an die Wärme in Mutters Bett. An mein Kuscheln an ihrem nach Brot duftenden Körper, an mein Verlangen nach ihrer Brust, obwohl ich schon drei oder vier Jahre alt war. Daß die Welt außerhalb dieses Bettes rauh und eisig war, erfuhr ich erst viele Jahre später.

Ich bin fremd hier, weil sich meine Zunge nach den Vokalen nicht so richtig biegt, fremd dort, weil ich den Meinen den Rücken kehrte. Gefallen in den Graben zweier Kulturen, die sich näher kommen möchten.
„Wie gut dein Deutsch ist“, sagen die Menschen immer wieder. „Nein, du bist keine Ausländerin, wenn du unsere Sprache so gut sprichst.“ Bei solchen Worten überlege ich manchmal, ob ich mich freuen oder schämen soll. Mein Deutsch, meine Rinde um meine Haut ist angeblich so dick geworden, daß keiner mein wahres Ich ahnt. Na gut. Ich gestehe alles. Ich habe Ihre Sprache an mich gerissen, mit ihr gerauft und gespielt, sie von einer Feindin zu Freundin umgepolt, sie zu meinem Werkzeug gemacht.
Ich schreibe in einer fremden Sprache, die für mich zur zweiten Haut geworden ist. Sie umhüllt die erste, die feine, verletzliche, bildet einen Schutzwall, wie eine Baumrinde hält sie mich zusammen. Ich möchte über das Gefühl, in einem unbekannten Land zu leben, schreiben und schreibe über mich. Mit geliehenen Worten, die ich lange verweigerte. Aus Angst an meine Grenzen zu stoßen, meine eigene Unfähigkeit erkennen zu müssen.
Wie viele Sprachen du sprichst, so viele Male bist du ein Mensch, sagt ein altes Sprichwort. Ich spreche vier Sprachen und bin nur ein Mensch. Keine vier. Ich bin ein Mensch mit vier Häuten, die meinen Körper wie die Jahresringe umkreisen, die ein Teil von ihm sind.
Russisch bedeutet mir eine goldene Umhüllung auf einem Olivenblatt aus Hawaii. Das Schmuckstück schenkte mir eine fremde Russin in Las Vegas als ein Andenken an unser Treffen. Ich sprach sie in ihrer Muttersprache an. Sie weinte, als sie mir von ihrer Emigration erzählte. Von Verlorenem und Neugefundenem, von Werten, die man nicht kaufen kann. Sie hatte in Amerika alles, nur die Worte sind ihr abhanden gekommen. Sie fühlte sich arm. An dem Abend tauchte sie in ihre Vergangenheit ein, sie redete, sie lachte, sie weinte. Beim Abschied beschenkte und umarmte sie mich. Dann verschwand sie und ich hielt das goldene Blättchen in der Hand in dem Bewußtsein, daß wir nicht einmal die Adressen getauscht hatten. Ich weiß nicht, wie sie heißt und ich weiß nicht, wo sie wohnt. Ich kann mich nicht einmal erinnern, wie sie ausgesehen hat. Trotzdem habe ich die Frau nicht verloren. Ich trage sie in dem vergoldeten Olivenblatt in mir.
Englisch ist meine Regenhaut. Es kann schütten, so viel es will, mit dieser Haut werde ich nicht naß. Ich schreite darin verhüllt die Straßen entlang und fühle mich unerkannt. Tausende Tönungen, tausende Nuancen, tausende Möglichkeiten diese Sprache auszusprechen, haben sie widerstandsfähig gegen Fragen gemacht. Ich bin froh, daß ich mich verständigen kann, mehr brauche ich nicht. Kein Mensch in New York fragt mich, woher ich komme.
Ich schreibe in einer fremden Sprache, die für mich zur zweiten Haut geworden ist. Gern spiele ich mit neuen Worten, verleihe ihnen Eigenschaften, entlocke Gefühle. Ich spaziere durch die Sprachen und erlebe Geschichten, ernste und lustige Geschichten, die mich vereinnahmen. Und dann wundere ich mich manchmal, wie ich in diese oder jene Geschichte geraten bin, wie es passieren konnte, daß jemand meint, daß ich hier fremd bin.
Ich schreibe in einer fremden Sprache, Sarah, eine schwarze Schönheit aus Jamaika fährt mit uns gern Ski, Jason, unser australischer Freund, bewundert den Meister Hundertwasser, Giorgia aus Rom kocht für uns Spaghetti, was ist eigentlich mit Joeana, sie hat schon lange nicht geschrieben, wollte nicht Lubo zu Weihnachten kommen...? Meine Zeit ist voll von Menschen, Sprachen und Geschichten, die meine dünne, empfindsame Haut unter der Baumrinde berühren. Ich fühle mich, als wäre ich zu Hause. Vielleicht bin ich hier zu Hause.