MITGLIEDER

Text von:
Klaus Sinowatz

Der Geist von Glasenbach

 

O, wie bin ich Kreisky dankbar! Er hat es den Maturanten ermöglicht, dass sie ihren sechsmonatigen Grundwehrdienst auf jeweils drei Sommermonate in zwei Jahren aufteilen können. Dadurch ist es angehenden Studenten möglich, ihr Studium gleich zu beginnen und den Militärdienst im Sommer zu absolvieren.

Und so stehe in Reih und Glied, die Hippiemähne herunter, das Gesicht glattrasiert. Ich fühle mich nackt und entmündigt. Einer steht da vorne und schreit seine Kommandos. Eines davon lautet „Ruht!“ und ich stelle den linken Fuß eine halbe Schuhlänge nach links vor. Ich bin in Glasenbach in der Rainerkaserne gelandet, wo alle Maturanten, die sich zum geteilten Grundwehrdienst gemeldet haben, zusammengezogen worden sind.

Das Kommando ist ein Befehl mit feststehendem Wortlaut. Es ist exakt zu geben und besteht aus zwei Teilen dem lauten und deutlichen Ankündigungsteil, z.B. „Habt“, und dem kurzen und prägnanten Ausführungsteil, z.B. „acht!“. Bei „Ruht!“ ist das halt anders, außer der Kommandant würde „RRR“ und dann „uht!“ befehlen. Das tut er aber nicht, weil er sich an die Vorschrift hält, außer er wäre ein Spaßvogel. Ist er aber nicht. Ich weiß nicht, dass „Ruht!“ eigentlich eine erleichterte „Habt-acht-Stellung“ ist und dass meine Aufmerksamkeit gegenüber dem Kommandanten nicht nachlassen darf. Tut sie aber! So richtig erleichtert fühle ich mich jetzt auch nicht. Natürlich sind Sprechen, Rauchen und Verlassen in der Einteilung auch verboten. Wer hätte das gedacht. „Unnötiges Bewegen der Arme und Beine soll womöglich vermieden werden.“ Das bedeutet eine gewisse Lücke in der Vorschrift, die ich natürlich ganz unbewusst auszunutzen beginne, indem ich mich an der Nase kratze, was ja unbedingt notwendig ist, da sie in dem Augenblick wirklich ganz außerordentlich zu jucken beginnt. Unwillkürlich warte ich auf die donnernde Reaktion des Kommandanten, die aber ausbleibt. Er ist also ein Mensch!

Da zischt mich der Kamerad, der links neben mir steht, ganz giftig an:“ Holt staad!“

Ich habe nicht gewusst, dass er mittlerweile zum Kommandanten aufgestiegen ist. Aber ich richte mich danach. Das Jucken hat auch inzwischen befehlsmäßig nachgelassen, sodass ich ganz aufmerksam der Rede des Kommandanten lausche, die sich diesmal um „Gehorsam“ dreht.

Er ist sogar, für ihn außergewöhnlich, doch auch witzig, indem er sagt: „ Die beste Haltung ist die Maulhaltung! Und tatsächlich gab uns Gott zwei Ohren zum Hören und nur einen Mund zum Reden. Ob im Staat und Betrieb, es gibt Befehle und Weisungen, die wir gehorsam erfüllen sollen.“ „Hat der noch nie etwas von Betriebsrat und Gewerkschaft gehört?“, frage ich mich.

Doch er fährt unbeirrt fort: „Selbst in der Ehe sagt man: Jede Ehe geht gut, wenn der Mann die zehn Gebote und die Frau den Mund hält.“

Lautes Gelächter aus dem Zug, auch mein linker Kamerad lacht. Der Kommandant unterbindet das Gelächter nicht, sondern lächelt geschmeichelt.

Er spricht weiter: „Gehorchen heißt dem anderen Gehör leihen und ihm folgen. Sicher ist es nicht immer möglich, den Sinn des Befohlenen zu erkennen.“

„ Wie bei den Weltkriegen!“, denke ich mir.

Aber er setzt fort: „ Tut nicht jeder von uns vieles im Vertrauen, dass der andere es besser versteht und dass der Befehl einen Sinn haben wird!“

„Also in der Schule haben wir da was anderes gelernt!“, geht es mir durch den Kopf, aber da kommt es schon.

„Ein Befehl, der gegen dein Gewissen steht, der also deiner Meinung etwas sittlich Böses verlangt, braucht und darf nicht befolgt werden.“

„ Na also!“

„Wer keinen Verstand hat, gilt als Trottel“, so der Kommandant, „ aber es war schon immer ehrenhaft, Vertrauen zu haben und zu gehorchen. Wenn du einmal Verantwortung tragen musst, dann wirst du erkennen, dass gehorchen leichter ist als befehlen, denn wer befiehlt, trägt auch die Verantwortung.“

„Bei Hitler war das praktisch, da konnte man die ganze Verantwortung auf ihn schieben“, sinniere ich, „ und alle anderen waren dann die, die gehorchen mussten, weil sie einen Befehlsnotstand hatten. Aber was ist eigentlich das sittlich Böse? Wenn ich einen Feind töte? Aber dazu ist der Soldat schließlich da? Oder wenn ich nackt in der Gegend herumlaufe oder Sex habe ohne zu heiraten?“


„Gehorchen, das ist der Geist unserer Rainer-Kaserne, das ist der Geist von Glasenbach! Wir haben das Erbe des Salzburger Hausregiments Erzherzog Rainer Nr. 59 übernommen und wollen es in Ehren halten!“, erhebt der Kommandant jetzt deutlich seine Stimme. Das war also der Abschluss dieser Belehrung. Endlich dürfen wir abtreten und in unsere Unterkunft gehen.

Im Zimmer fährt mich gleich einer der beiden Eichhorn-Zwillinge – sie werden von allen „die Eichhörner“ genannt – an: „ Bist du eigentlich ganz deppat? Du derfst di do ned rühr´n, wenn der ganze Zug angetreten ist.“

Das ist Peppi Eichhorn, der mit dem System immer völlig konform geht, sein Bruder Bernhard ist das Gegenteil und nimmt immer die andere Position ein, schon aus Prinzip.

„Wannst des Buch „Der Dienst im Bundesheer“, des ma uns kauft haben, wirklich g´lesen hast, dann weißt du, dass beim Antreten „unbewusstes Bewegen der Arme und Beine womöglich vermieden werden soll. Womöglich!!“, schreit er seinem Bruder triumphierend entgegen. „Des heißt, wann mas ned vermeidn kann, dann derf ma schon.“ Beide wollen nach dem Bundesheer Jus studieren.

„Unbewusst!“, hält ihm sein Bruder entgegen. „Wannst di kratzt, dann ist des aber bewusst! Also, ned erlaubt.“

Sie werden noch endlos streiten. Es geht ums Rechthaben. Ich sage gar nichts mehr und ziehe mich auf die untere Etage meines quietschenden Bettes zurück. Vor dem Schlafengehen ist die für den nächsten Tag benötigte Uniform ordnungsgemäß auf den Hocker zu legen. Also mach ich das. Wir sind sechs Leute in dem Zimmer, das mit drei Doppelbetten ausgestattet ist. Die oberen Schlafplätze sind natürlich begehrter, weil einem da nichts entgegenrieselt, vor allem keine Fürze.

Neben meiner Wenigkeit gibt es eben die besagten „Eichörner“, den Fritzi Waldner, ein kleiner, pfiffig wirkender Kerl mit struppigem blonden Haar und einer runden Nickelbrille. Er schaut aus wie ein Linker, ist aber politisch sehr weit rechts, wie sich in den ersten Gesprächen gezeigt hat.

Dann ist da noch der Friedl, ein rundlicher, starker Typ, dessen Kräfte man aufgrund seines harmlos wirkenden Aussehens unterschätzt. Und dann haben wir noch den Tiefenthaler, ein elendslanger Kerl, der „danach“ Medizin studieren will. Er gibt sich als Intellektueller, der erzkatholisch ist und über allem steht.

Wir haben Glück gehabt, dass unsere Gruppe so ein kleines Zimmer erwischt hat. Die der anderen Gruppen sind viel größer und haben viel mehr Leute. Es gibt eben dieses kleine Zimmer und das muss auch besetzt werden. Ich setze mich auf mein Bett, schalte meinen Kassettenrecorder ein und höre mir Bo Diddley mit der Nummer „Hey Bo Diddley“ an, eigentlich nicht besonders laut.

„Dreh den Scheiß ab!“, kommt es vom gegenüberliegenden Bett. Fritzi hat sich zu Wort gemeldet und er setzt nach: „Wieso soll ich mir diesen Negerscheiß anhören? Schalt aus!“

Ich sage: „Wie bitte? Ich kann in dem Zimmer in der Freizeit hören, was ich will. Ist ja eh nicht so laut.“ Meine Empörung beginnt erst langsam zu erwachen.

„Nicht, wenn es die anderen stört“, entgegnet Fritzi, „nicht wahr, Friedl?

Der fühlt sich sofort geschmeichelt, dass er um seine Meinung gefragt wird und stimmt zu.

„Ned so a Negamusik!“, sagt er.

„Was seids ihr für Rassisten?“, entgegne ich. „Des is doch super!“

„Drah den Schas ab oder wir mochn wos mit dir!“, sagt der Friedl und drückt auf die Aus-Taste des Kassettenrecorders. Ich schalte sie wieder ein.

„Pass auf! Wannst ned wüllst“, und er stürzt sich auf mich und zwingt mich auf einen Holzsessel. Er ist doch deutlich kräftiger als ich.

„Wos soi ma jetzt mit eahm mochn?“, blickt er keuchend den Fritzi an.

Und der sagt laut: „Anbindn!“

„Wos?“, fragt der verdutzte Friedl. „Wirklich?“

„Klar!“, ist Fritzis Antwort. „Da hast eine Schnur!“ Und er beginnt schon meine Beine an den Stuhlhaxen festzubinden, während Friedl meine beiden Arme zur Stuhllehne zurückbiegt und meine Hände daran festbindet.

Natürlich versuche ich mich, so gut es geht, zu wehren, aber gegen zwei richtet man nicht so leicht was aus.

„So und wos mochst jetzt?“, plärrt der Friedl triumphierend. „An Schas mochst jetzt! Des gschiacht da recht. Du und dei Negamusik!“

„Es seids Nazis!“, schreie ich.

„Na, Nazis sind wir nicht. Die hätten mit dir gleich was anderes gemacht. Aber sie waren nicht in allem schlecht“, entgegnet der Fritzi ganz ruhig. „Z.B. haben sie auf den Gemeinschaftssinn geachtet, damit keiner dem Volk schadet. Das ist doch gut, oder? Und was machst du? Du störst unsere Zimmergemeinschaft mit deiner Musik? Fragen wir doch die anderen!“, schlägt er vor.

Wir sind nur zu viert in dem Zimmer, die Eichhörner sind auf Ausgang. Bleibt also nur der Tiefenthaler, der bisher völlig ungerührt oben auf seinem Bett gelegen ist und sich in ein Buch vertieft hat. Er ist Zimmerältester und deshalb als Erster für die Ordnung und das Verhalten seiner Kameraden verantwortlich.

„Macht ihn wieder los!“, befiehlt er ganz ruhig.

„Was?“, meint der Fritzi. „Der soll ruhig noch was dunsten!“

„Losmachen, sag ich, sonst melde ich euch alle. Der hat sowieso schon seine Lektion gelernt. Also, ich entscheide: Ihr bindet ihn wieder los und er spielt seine Musik nicht mehr. Ist das kein Kompromiss?“

Murrend macht sich Friedl daran, meine Fesseln zu lösen.

„Was“, schreie ich, kaum losgebunden, „ das soll ein Kompromiss sein? Ihr Orschlöcher!

Und du bist ja des Oberorschloch!“, fahre ich den Tiefenthaler an.

„Zuerst zwingts mich mit Gewalt und dann derf i ned Musik hören? Des soll Demokratie sein?“

„Jetzt pass mal auf,“ redet er vom oberen Stocks seines Bettes auf mich herab.

„Weißt du, was ich da gerade lese? `Also sprach Zarthustra´. Also nicht, dass ich Nietzsche jetzt besonders schätze, vor allem weil er jetzt tot ist und nicht Gott. Aber ich muss ihm auch manchmal recht geben. Ich zitiere dir!“ Und er beginnt vorzulesen.

„Aber, wo ich Lebendiges fand, da hörte ich auch die Rede vom Gehorsame. Alles Lebendige ist ein Gehorchendes. Und dieses ist das zweite: Dem wird befohlen, der sich nicht selber gehorchen kann.

So ist des Lebendigen Art.

„Was“, schreie ich, „ ich kann mir selber gehorchen. I will Musik hörn, also moch i des!“

„Du gibst dich doch nur deinem Trieb hin. Du gibst dich nur deiner Lust und deiner Schwäche hin!“, doziert Tiefenthaler.

Und er fährt fort: „Meinst du, mir macht es Spaß, dir was anzuschaffen? Aber ich bin hier in diesem Zimmer verantwortlich, dass Ordnung und Frieden herrschen. Aber jetzt hör zu, was der Nietzsche dazu sagt!“

„Dies ist aber das Dritte, was ich hörte: dass Befehlen schwerer ist, als Gehorchen. Und nicht nur, dass der Befehlende die Last aller Gehorchenden trägt, und dass leicht ihn diese Last zerdrückt.“

„Das ist ja derselbe Schas, den der Kommandant verzapft hat“, keife ich zurück.

„Du warst ja offensichtlich zuerst der Schwächere oder ned? Dann höre, was der Nietzsche dazu zu sagen hat!“, redet er weiter.

„Wo ich Lebendiges fand, da fand ich

Willen zur Macht, und noch im Willen des Dienenden fand ich den Willen Herr zu sein. Dass dem Stärkeren diene das Schwächere, dazu überredet es sein Wille, der über noch Schwächeres Herr sein will: dieser Lust allein mag es nicht entrathen. Und wie sich das Kleinere sich dem Größeren hingiebt, dass es Lust und Macht am Kleinsten habe: also giebt sich auch das Größte noch hin und setzt um der Macht willen – das Leben dran.“

„Jetzt hör ma auf mit dem Nietzsche-Schas!“, keuche ich empört. „Den kannst da einrexn! Ihr seids ja jenseits von Gut und Böse. Morgen geh i zum Rapport und meld des Ganze!“

„Dazu brauchst aber Zeugen!“, meldet sich Fritzi ganz pfiffig zu Wort. „Und ich seh aber keine Zeugen!“ Und er blickt den Friedl bedeutungsvoll an, der nickt wortlos. Dann schweift sein Blick zum Tiefenthaler, der ebenfalls nickt und dann das Wort ergreift:

„So einen Wirbel brauchen wir in unserem Zimmer nicht. Du wirst dich fügen müssen, sonst wirst du es bei uns sehr schwer haben. Ich glaub, du überschläfst die ganze Sache noch einmal.Wenn du dich beruhigt hast, dann schaut morgen schon alles wieder ganz anders aus. Gelt? Und jetzt ist es eh schon zehn Uhr, also Licht aus und Nachtruhe!“

Mit diesen Worten dreht er das Licht aus und ich rolle mich grollend in meine Decke ein. Ich kann aber nicht einschlafen, weil ich nicht weiß, was ich tun soll. Irgendwann verfalle ich dann doch in einen sehr oberflächlichen Schlaf. Als ich am nächsten Morgen aufwache, beschließe ich, nicht zum Rapport zu gehen.