MITGLIEDER

Text von:
Valerie Springer

Von Angstschweiß und Feigheit

Anfangs hatte Hubertus Dünkel, weil sie ein Lehrmädchen war. Er hasste sich für die Herablassung, die er spürte, wenn sie ihrer Unkompliziertheit freien Lauf ließ. Und doch war das ihre Rettung.
Und in gewissem Sinne auch seine.
»Lass das, du Arschloch!« Zwei Monate nach ihrem Arbeitsbeginn hörte er sie aus der Küche kreischen. Die Schwingtür zwischen Küche und Gaststube flog auf, sie stapfte wütend heraus, blickte sich um, ob jemand da wäre, der sie gehört haben könnte. Hastig setzte sie sich zu Hubertus auf die Bank beim Stammtisch. Kurz darauf kam der Vater aus der Küche, ging wortlos an den
beiden Jugendlichen vorbei und verließ die Gaststube.
Hubertus fühlte unkontrollierbaren Zorn in sich aufsteigen, wie schon so oft. Noch hatte er nie den Mut gehabt, dem Vater zu kontern. Er wollte ihm nachrennen, sich ihm erstmals stellen. Stellvertretend für die unzähligen Male, als er zu feige gewesen war, sich zu verteidigen. Die Mutter zu verteidigen. Oder – früher noch – seine Schwester Sophia zu verteidigen, als das noch
möglich gewesen wäre.
»Ich hab's schon erledigt«, versuchte Lucy ihn zurückzuhalten.
»Ich muss trotzdem. Da geht's um was anderes«, sagte er und ging dem Vater nach. Während der ersten Schritte hielt seine unbändige Wut noch an. Er wusste nicht wirklich, was er tun wollte. Am liebsten hätte er den Vater erschlagen, ihn getötet, ein für alle Mal dieses Haus von dem Tyrannen befreit, der alle als Tiere betrachtete, die er nach Belieben treten und demütigen konnte.
Er betrat das Zimmer der Eltern, ohne anzuklopfen. Er wusste, dass das an sich schon unerhört war.
Er roch den Angstschweiß der Mutter, roch den Jähzorn des Vaters.
»Die muss weg«, sagte der Vater mit hasserfüllter Stimme zur Mutter.
»Sie bleibt«, sagte sie leise, demütig, bittend, flehend.
Der Vater wandte seine Aufmerksamkeit Hubertus zu: »Was willst du hier?«, herrschte er ihn an. »Nie wieder wirst du ... «, presste Hubertus hervor. Er atmete durch, richtete sich auf, eine unbezähmbare Testosteron-Sturmflut schoss durch seinen pubertierenden Körper.
»Nie wieder!«, sagte er nochmals und hoffte, dass seine Stimme tatsächlich so fest und bedrohlich klang, wie sie ihm erschien. Er verließ das Wohnzimmer und warf die Tür knallend zu. Auch dies eine Unerhörtheit, die es in diesem Hause noch nicht gegeben hatte.

(aus: Ein paar Tage in einer fremden Stadt, Verlag Wortreich, 2016)