MITGLIEDER

Text von:
Susanne Ayoub

Ausschnitt aus der Erzählung "Revolution"

Im Haus herrschte Dämmerung den ganzen Tag lang. In schmalen Streifen fiel grünliches Licht durch die Spalten der Jalousien. Der Aircooler drehte sich unermüdlich. Wenn zuviel Strom durch die Leitungen floß, sang er hoch und schrill, aufgeregter als die Zikaden. Am Morgen surrte er sanft, und die Luft, die er über ihren Köpfen bewegte, brachte ihnen Kühle.

Der Mann stand im Garten. Er wässerte seine Rosen. Er rauchte und spielte mit seinen Hanteln. Er schüttelte nur den Kopf, wenn das Kind zu ihm kam. Die Frau nahm es an der Hand und führte es ins Haus zurück.

„Warum gehen wir nicht auf Besuch?“ fragte das Kind.

Drei Wochen lebten sie schon hinter den hohen Mauern ihres Hauses eingeschlossen.

Der Mann schwieg. In einer Hand hielt er das Teeglas, mit der anderen drehte er am Radio. Das Programm, das er suchte, gab es nicht mehr. Keine Musik, nur aufgebrachte Männerstimmen. Das Kind wiederholte seine Frage. Der Mann stand auf und ging in den Garten zurück. An seiner Stelle antwortete die Frau.

„Es herrscht Revolution“, sagte sie.

Sie schliefen nicht mehr auf dem Dach. Im Freien war es zu gefährlich. Auch auf den Dächern wurde geschossen. Über die Treppen, die von einem Dach zum anderen führten, konnte sich jemand an sie heranmachen. Früher waren abends, wenn die Hitze über der Stadt nachließ, ihre Besucher die Treppen heraufgestiegen. Nun blieben die Dächer leer. Das Radio lief Tag und Nacht.

Wenn es dunkel wurde, verließ der Mann das Haus. Er sagte nicht, wohin er ging. Das Kind fragte nicht mehr, warum. Die Frau und das Kind warteten ab, bis der Mann fort war. Dann liefen sie durch den Garten und stiegen die Treppe hinauf zum Dach. Die Frau spähte auf die Straße. Sie sah eine Menschenmenge ohne Anfang und Ende vor dem Haus vorüberziehen. Die Menschen tanzten, sie schrien, sie trugen große Bilder mit sich, auf denen ein schöner Mann zu sehen war. Ihren Retter, den Befreier des Volkes, nannten sie ihn.

***

Vor dem Radio kauerte der Mann. Die Frau hatte Angst. Sie sah das Kind nicht an, nur ihren Mann, der mit nassen Wangen stammelte und jammerte. Das Liebste auf Erden war verloren. Der Bruder, der wie ein Vater zu ihm gewesen war. Der Beschützer und Anführer, der mächtigste Mann in ihrer Familie. Er stand vor Gericht. Aber er erkannte es nicht an. Laut und zornig drang seine Stimme aus dem Radioapparat. Er werde seinem König und seinem Vaterland treu bleiben, rief er. Den Eid, den er geschworen habe, werde er nicht brechen, bis in den Tod. Das Radio sendete direkt aus dem Gerichtssaal.

Das Kind entdeckte den Skorpion auf dem Boden. Erschrocken deutete es mit dem Finger darauf. Der Stich des Skorpions schmerzte. Der schwarze Skorpion konnte für den Menschen gefährlich sein. So vieles war gefährlich.

Der Mann weinte. Die Frau legte eine Hand auf seine Schulter. Das Kind stieg mit seinem kleinen Fuß auf den Skorpion. Die Frau und der Mann achteten nicht darauf. Es krachte, als sein Panzer brach. Der Feind war tot.

Dreimal wurde das Volk gerettet. Dreimal trugen die Menschen das Bildnis ihres Befreiers durch die Straßen. Hinter den Mauern des weißen Hauses lebten der Mann und die Frau und das Kind. Im Garten blühten die Rosen. Die Zikaden sangen. Die Palmen schüttelten ihr gefiedertes langes Haar. Die Datteln waren gelb, dann rot. Misch-misch hießen die kleinen, süßen Marillen. Im Bazaar trank das Kind Granatapfelsaft und sah einem malenden Bettler zu, der seinen Zeichenstift mit der Zehe hielt. Er hatte keine Hände.

Der Mann schenkte der Frau einen Fernsehapparat. Seite an Seite saßen sie im Wohnzimmer und sahen amerikanische Filme an. Das Bild flimmerte, aber das machte ihnen nichts aus. Der Mann träumte davon, in Amerika zu leben. Die Frau hatte einen anderen Traum. Sie wollte in das Land, aus dem sie gekommen war, heimkehren.

Am Tag, als die Fernsehstation besetzt wurde, faßte sie ihren Entschluß. Der Film, der lief, wurde unterbrochen, und im Fernsehstudio sah man den Mann, der als letzter das Volk gerettet hatte. Soldaten stießen ihn vor die Kamera und banden ihn in einem Stuhl nieder. Einer, der unsichtbar blieb, setzte ihm seine Pistole an und drückte ab. Die Kugel traf, aber sie tötete nicht. Der Befreier des Volkes starb langsam. Die Menschen vor den Fernsehapparaten sahen ihm dabei zu. Immer wieder griff die Hand des unsichtbaren Mörders in den Haarschopf des Sterbenden und hob sein Gesicht der Kamera entgegen. So konnten es alle sehen, als er endlich tot war.