MITGLIEDER

Text von:
Erwin Uhrmann

Versteckspiel in Samarra

Sie kennen diese Geschichten, in denen sich jemand im Sarkophag neben einer Mumie versteckt. In der Nacht herauskommt, furchtbar agil, sich umsieht, sein Blick schon an die Dunkelheit gewöhnt, tollpatschig gegen einen Museumssockel stößt, eine antike Plastik ins Kippen bringt und sie im letzten Moment, alle Sehnen im Spagat gedehnt, noch auffängt. Dann geht das Licht an, die Alarmanlage schrillt, ein verstörter Wärter steht im Raum. Ich habe mich vergewissert, dass ich hier sicher bin, dass es keine Alarmanlage gibt.

Schon seit Mittag habe ich mich durch die Mengen bewegt, hatte ein paar Stunden lang Zeit zum Nachdenken. Mir ging vieles durch den Kopf, während Schulklassen, Pensionisten, Paare und Einsame an mir vorbeizogen. Das Gemurmel der Leute hängt mir noch in den Ohren.
Eine halbe Stunde bevor das Museum schließt huschen sie durch die Gänge. Sie müssen in diesen letzten Minuten unbedingt noch Objekte sehen, die sie vorher nur peripher interessiert haben. Die Zeit läuft ihnen davon.
Eine Viertelstunde vor Schließen sind alle Räume voll von Durchzüglern, die nicht mehr wirklich stehen bleiben, nur mehr im Trabschritt unterwegs sind und konzentriert in ihren Köpfen Ausstellungsstücke abhaken, bis sie aufgeben, um letzten Endes nur noch danach zu trachten, zumindest in jedem Raum und letztlich in jedem Stockwerk gewesen zu sein. Fünf Minuten vor Schluss wird es ruhig.

Nachdem keine Schritte mehr auf den Steinboden aufschlugen, stieg ich in den offenen Sarkophag. Er steht auf einem Sockel und ist so tief, dass niemand von unten hineinsieht. Dass hier einmal eine Leiche lag, stört mich nicht. Der Stein ist sauber, kalt und bequem geformt.

In einiger Entfernung höre ich das Klackern von Holz, oder sind es Instrumente? Es könnte die Vorbereitung für ein Konzert sein. Manchmal gibt es abends im Museum Konzerte. Ich habe das selbst schon erlebt. Oder etwas wird repariert. Es ist ruhig, dann wieder klackert und hallt es. Als arbeite jemand konzentriert. Die Geräusche werden mehr, das Klackern kommt regelmäßig. Natürlich ein Schlüsselbund. Ein Wärter macht seine Runde. Geht durchs menschenleere Haus mit seinem großen Schlüsselbund. Er wird sich nicht über den großen Steinsarkophag beugen. Warum auch.

Der Wärter dürfte bereits im Raum stehen. Das Licht geht aus. Das Klackern kommt nicht vom Schlüsselbund, den hat er in der Hand und schüttelt ihn, wenn er nach einem Schlüssel sucht.

Bis ich zehn war hat es in den großen Ausstellungshallen noch kein elektrisches Licht gegeben. Das Museum hat zugesperrt, wenn es dunkel wurde. Das war jeden Tag eine andere Zeit. In der Dämmerung haben die Skelette von den Sauriern Schatten geworfen. Mit zugekniffenen Augen hat es dann so ausgesehen, als habe der Saurier noch Fleisch an den Knochen.
Bevor ich mich in mein steinernes Bett gelegt habe, habe ich mich umgesehen. Die elektrischen Leitungen sind nicht in den Wänden. Sie laufen wie hervorstehende Adern über den Marmor. Man kann sie jederzeit wieder herunterreißen. Dieses Haus ist ein Koloss, der sich schützt.
Der Wärter will zurück in seine Zentrale, wo schon ein warmer Kaffee auf ihn wartet. Dort wird er sich Videos im Internet ansehen oder mit seinen Freunden telefonieren. Hier bin ich sicher.

Meine Augen gewöhnen sich an die Dunkelheit. Jetzt bräuchte ich vergrößerte Pupillen, so wie sie vor ein paar Tagen nach dem Eintropfen beim Augenarzt waren. Beim Hinausgehen hat er mich noch gewarnt dass ich sensibel auf das helle Tageslicht reagieren werde. Und es war ein sehr heller, heißer Tag. Weil ich automatisch im Schatten ging erwischte es mich erst an der Ampel. Dann stand ich da. Die Konturen verzischten wie Spucke auf einer Herdplatte. Rissen aus ins Weiß. Ich hasse diese Hitze und diese Helligkeit. Minutenlang war ich blind. Im Sarkophag kann ich Gott sei Dank sehen. Meine Füße sind kalt geworden, das ist angenehm. Es ist an der Zeit, dass ich herauskomme.

Warum bloß fällt mir Harald ein. Als junger Mann ist er jeden Tag durch den Hamburger Elbtunnel gegangen. Auf dem Weg zur Arbeit bei Blohm und Voss. Hat dort ein paar Jahre lang Schiffe gebaut, dann hat es ihn nach Stockholm verschlagen. Dort war er  Gelegenheitsarbeiter in einer Werft. An einem sonnigen Aprilmorgen hat ihn ein Schiff nach Reykjavik mitgenommen, weil er den Kapitän gekannt hat. Die kennen sich immer alle und helfen sich gegenseitig. Oben in Reykjavik hat er alte Schiffskutter zusammengeflickt für ein paar Kronen die Stunde. Als Schiffsflicker wurde er zu Haraldur.

Haraldur  ist mir eingefallen, weil es in seinem Haus genauso gerochen hat wie hier. Nach eingetrocknetem Öl, Stein und altem Fisch.

Der Staub liegt im Museum genau so flächenfüllend wie in meiner alten Schule. Von der ist Haraldur noch als Harald geflogen, lange bevor ich auf der Welt war. Staubig, wie im biologischen Kabinett wo die Schödelmödelle standen. Das auch das Disziplinzimmer genannt wurde. Er solle die Köpfe der Menschenrassen unterscheiden, er solle „Sofort ihre Unterschiede auf-zäääh-len!“ Genauso soll es die Lehrerin gesagt haben. Eine Hand schon bereit zur Ohrfeige. Er konnte nicht, wollte nicht. Ihn interessierten Schiffe. Die sahen dann doch alle gleich aus, die Köpfe.

Mir kommt vor es zieht. Muss der Wärter irgendwo ein Fenster offen gelassen haben. Immer Wind in dieser Stadt.

Ein paar Schritte und mir fallen tausend Dinge ein. Der Sarkophag hat mich abgeschirmt. Was für ein guter Ort. Kann mein Kopf irgendwelche Wellen empfangen? Ich möchte es nicht glauben. Verdammt, es muss so sein. Mein Kopf  kann vermutlich all das Zeugs empfangen, dass da herumgeschickt wird. Nur kann ich es nicht entziffern. Ob ich will oder nicht, mein Kopf kann alles empfangen: das Posting, die Reaktionen, die Weltpolitik. Das Posting muss ich jetzt vergessen. Von hier aus kann ich es nicht löschen und selbst wenn ich es lösche, hat es jemand schon gespeichert. Besser an Haraldur denken als an das Posting. Haraldur ist im Vorjahr gestorben. Besser nicht an seinen Tod und auch nicht an das Posting denken.

An der Schwelle zur Säulenhalle steht der Bär. Dass er so dastehen muss, wie ein Angreifer.  Ich berühre ihn. Das Bärenfell ist struppig, trocken und hart. Es fühlt sich so an wie die die Mäuse, die Haraldur als alter Mann gemacht hat. Mäuse aus rauem Leinen, gefüllt mit Watte, die Gesichter angemalt.  Eine Maus saß auf meinem Bett. Saß dort mit ihren komischen Ohren, ihrem roten Mund und der kohleschwarzen Nase. Ich ließ sie ins Gebirge schauen durch das kleine Fenster. Jetzt nehme ich die Haltung dieser Maus ein. Ich schaue nicht ins Gebirge, dafür in eine alte staubige Halle. Tagsüber gehört sie tausenden Kindern und ein paar Erwachsenen. In der Nacht, heute, gehört sie mir.
Der Wärter ist längst dahin. Das Bärenfell ist rau wie das der Stoffmaus. Wenn das Museum nur für immer schließen würde. Ich bliebe dann hier.  Wenn morgen die Welt eine andere wird, die Stadt geteilt, wie damals Berlin. Dort war der Hamburger Bahnhof im Westen und doch ein Teil der DDR. Ein Wärter, der dafür sorgte, dass alles so bliebe wie es ist. Dass die Mäuse alle in ihre Richtungen blickten, immer dieselben. Ich wäre der Wärter. Im Niemandsland. Warum nur immer jemand kommen und alles verändern muss. Warum man das hier elektrifizieren musste. Gut, jetzt ist das Licht aus. Aber wäre es nicht besser, es ginge gar nie an, weil es gar nicht angehen könne, weil es keinen Strom in diesen alten Wänden gäbe. Aus Brandschutzgründen allemal besser. Mit Sonnenuntergang dann Mäusestarre.

Hätte ich nicht „Veröffentlichen“ gedrückt, dann wäre ich gar nicht hier. Dann säße ich zu Hause und schaute in meinen Computer. Ich ärgerte mich über dies und das. Aber ich habe „Veröffentlichen“ gedrückt. Damit habe ich alles verändert. Meine Routinen und Abläufe, dieses lange Band in der gleichen Farbe ist gerissen. Es reißt noch immer, draußen. Es wird scharf geschossen, darauf wette ich. Ich sehe und höre es nicht. Ich bin im Zwischenzustand, wie Schrödingers Katze.

Ich lege mich in der Steinesammlung auf den Boden. Über mir diese aus der Erde gerissenen Fundstücke und unter mir der Marmorboden. Haraldur hat immer gesagt, wenn er nicht schlafen könne, dann gehe er zum tiefsten Punkt des Hauses. In den Keller. Er lege sich auf den Beton und sei mit der Erde verbunden. Dann schlummere er ein. Mache ich jetzt auch.

Was passiert? Von draußen Licht? Ein Wagen fährt vorbei, eine ganze Kolonne Licht streift durch. Wer fährt jetzt über den Platz? Eine Polizeistreife vielleicht, die kontrolliert. Unter den Lichtstrahlen schimmern ein paar grüne und violette Steine. Dieses feindliche Licht. Gott seid Dank hält es die Fassade ab. Überall dieses Licht. Ich würde, wenn ich der Wärter hier wäre, nur das Licht des Mondes und der Sterne akzeptieren. Alle Fenster verbarrikadieren und nur das Licht von oben hereinlassen. Von Altair, von Beteigeuze. Aber nichts von diesen menschlichen Lichtern. Diesen Lichtern, die man macht, um alles zu verschmutzen, jeden Winkel. Nicht über das Licht jetzt ärgern. Einfach nicht. Die Polizei weiß von meinem Posting, das wette ich. Wenn sie mich suchen, dann suchen sie mich draußen. Nie, nie würden sie mich hier vermuten.

Eine Tür geht auf.
 
Der Wärter ist wieder unterwegs. Ich und er sind hier allein, das steht fest. Das leise Klackern nähert sich. Der Luftzug ist wieder zu spüren. Ich kann jetzt unmöglich aufstehen. Wenn es der Wärter ist, muss er vorbeigehen oder sich zu mir legen. Er hat sicher mein Posting gelesen. Er wird, wenn er mich sieht, wissen, dass ich es geschrieben habe. Er wird über eine der unzähligen Reaktionen darauf aufmerksam geworden sein. Ich wünschte der Wärter würde seinen Computer abdrehen und die Kabel vom Marmor reißen.

Der Wärter kann nicht wissen, dass ich hier bin.

Er ist schnell, das muss man ihm lassen. Ich kann jetzt nicht aufstehen. Wenn er kommt, dann einerlei sieht er mich eben. Wenigstens weiß ich dann womit der Wärter dieses Klackern verursacht. Gelinde gesagt nervt es mich.

Ich höre Musik, sehr laute Musik, ohrenbetäubende Musik. Ein paar Minuten lang Musik. Musik, bei der man so ziemlich alles tun kann. Dann bin ich wach.
Das Klackern hat ein Holzstock verursacht. Er hat ihn bei sich geführt wie einen Polizeistock.

Ich kann mir nicht mehr helfen. Zu müde. Ich werde jetzt einschlafen. Der Wärter riecht seltsam. Säuerlich. Er starrt an die Decke.  Die Frage ist, ob ich es aushalte, neben ihm liegen zu bleiben. Außerdem ist mir jetzt heiß. Sein Blut verhärtet schnell und es juckt auf meiner Haut. Ich werde mich waschen gehen und dann zurück in mein Versteck.

Ich habe wirklich sehr lange geschlafen. Sie haben den Wärter entdeckt. Hunde haben sie nicht dabei gehabt. Mein Glück. Nur ein Hund könnte mich hier finden. Vor Hunden ängstige ich mich, zugegeben.

Gut, dass ich hier keine Strahlen empfangen kann. Ich weiß nichts mehr von dem was da draußen geschieht. Nur ein paar Wortfetzen von den Polizisten aufgeschnappt. Man kann das Innenohr ausschalten. Wussten sie davon? Dann hört man, aber man versteht es nicht. Gerüche lasse ich zu. Als die Tatortreiniger kamen, flutete ein thermalischer Geruch die Hallen.

Nein jetzt bin ich wach.

Ich erinnerte mich zurück an mein Leben. Einen thermalischen Geruch wie diesen habe ich aufgeschnappt als ich mit Haraldur auf Urlaub war. Derselbe Geruch ist am frühen Morgen durch die gepflasterten Straßen der Urlauberstadt gezogen. Er setzte sich in meinem Urlaubsbettlaken fest. Metallisches Schlagen, ein Moped aus der Ferne, lange nichts. Wenn ich nur das Posting vergessen könnte. Es spielt hier in diesem Sarkophag ohne Empfang ohnehin keine Rolle mehr.

Ich liege jetzt seit zwei Tagen im Sarkophag. Der Sarkophag ist aus Basalt. Ich wüsste zu gerne, wem er einmal gehört hat. Die Aufschrift ist leider außen. Keine Chance jetzt dort hin zu gelangen.

Der Wärter wird auf jeden Fall wieder kommen. In der Ferne höre ich das Klackern. Dieses Mal bleibe ich mit Sicherheit liegen.


Anmerkung: Eine Geschichte wird zu einer anderen Geschichte und die andere Geschichte wieder zu einer anderen Geschichte. Der Kern bleibt immer gleich.
Der Titel der Geschichte spielt auf den 1934 von John O’Hara veröffentlichten Roman „Begegnung in Samarra“ an. Darin werden die letzten Tage eines Autohändlers beschrieben, nachdem dieser seinem einflussreichen Vorgesetzten in einem Country Club einen Cocktail ins Gesicht geschüttet hat. Die irreversiblen Ereignisse erweisen sich als Verhängnis. O’Hara verweist im Titel seines Romans wiederum auf eine alte arabische Geschichte, in der der Diener eines Händlers auf einem Markt in Bagdad den Tod erblickt, der ihm schließlich zuwinkt. Verängstigt reitet der Diener davon in Richtung Samarra. Am Markt wirft der Händler dem Tod vor, seinen Diener erschreckt zu haben. Der Tod meint nur, er habe sich gewundert, den Diener in Bagdad zu treffen, wo er doch eine Verabredung mit ihm in Samarra habe.

Erwin Uhrmann