MITGLIEDER

Text von:
Udo Kawasser

Textprobe aus "Ried"

Als das Ried noch nicht wusste, dass aus ihm ein Ried werden sollte, saß es oft auf seinem Lieblingsbaum, einer weit ausladenden Eiche, und las in ihren bemoosten Astgabeln die Biografien von Albert Einstein und Che Guevara. Bis heute konnte es sich nicht für einen der beiden Wege, für die Wissenschaft oder den sozialen Kampf
entscheiden. Das Ried findet, es fehle ihm an Charakter und an Tatkraft. Hatten nicht alle schon früh gemeint, es könnte eines Tages versumpfen? Das Ried lebt ständig
mit einem schlechten Gewissen. Es hätte schon längst wieder vom Baum runterkommen sollen.

Das Ried ist ein Geisteszustand.

Seltsam kommt es dem Ried vor, dass die Menschen glauben, nur sie würden sehen. Sie zeigen keinerlei Bewusstsein davon, dass auch sie gesehen werden von den
Pflanzen und Tieren. Und dennoch, jede ihrer Bewegungen und jede ihrer Taten trifft auf Augen, die sie sehen. Es kommt ihm so vor, dass sie nicht einmal wissen wollen,
dass sie gesehen werden und noch weniger wie sie gesehen werden. Als gäbe es nur ihren Blick und ihre Welt. Und wenn sie plötzlich für unsere Blicke empfänglich
würden? Das Ried fragt sich, ob Kafka diese Blicke spürte, als er schrieb: „Es war, als sollte ihn die Scham überleben.“

Aus: Ried (Abschluss der Wassertrilogie), Sonderzahl, Wien 2019