MITGLIEDER

Text von:
Eva Possnig-Pawlik

Passage aus der Erzählung „Über alle Grenzen“

Verschärfter Lockdown! Ihr könnt’s mich gern haben, schnauft Henriette. Nicht einmal im Fernsehen ist was G’scheit’s! Sie greift nach dem Stock, der neben ihr am Sofa lehnt und rutscht zur Kante vor. Langsam steht sie auf und schlurft zum Fenster. Dunkel ist‘s schon wieder. Ach, der Winter! Henriette zieht die Vorhänge zu und dreht das Radio lauter. Als sie später mit einer Tasse Tee aus der Küche kommt, verklingt Klaviermusik und eine Sprecherin meldet sich.

Lend Libertango, verkündet sie. Lyrik aus Kärnten. Henriette stutzt, ihre hellgrauen Augen blitzen. Sie stellt die dampfende Tasse auf den Couchtisch und lässt sich in den Lehnstuhl fallen. Leise, wie aus weiter Ferne, ertönt jetzt Tangomusik.

 

Ein Sommerabend unter Brückenbögen

am kleinen Hafen der Lend.

Zwischen Kastanien Laternenschimmer,

winterweiße Orchideen.

Schatten fallen von Mauern in die Tiefe,

Gestirne in das Dunkel des Kanals,

zeichnen Galaxien aus Algenschlieren.

 

Vom Podium fächelt ein Aufwind:

Gedichte – wie Rosen,

schenken Hoffnung zu Klängen des Akkordeons,

dem Tango Nuevo,

Libertango.

 

Vor der Marmorstiege stemmen Mädchen ihre Räder

und tragen sie empor.

Wie rote Junikäfer tanzen die Lichter vor‘m Gemäuer,

zum Tango Nuevo,

nuevo,

Lend Libertango!

Und Gedichten wie Rosen,

wilden Rosen.

 

Langsam öffnet Henriette die Augen. Auf dem faltigen Gesicht liegt ein Lächeln. Sie nestelt an der Wolldecke und zieht sie über die Knie.

Ja, Rosen wär’n jetzt schön! Was Blühendes im Zimmer. Sie seufzt. Und tanzen! Hab ich früher für mein Leben gern getan. Tango Nuevo. Sie summt die Melodie mit und stampft dazu mit den Füßen den Takt. Ja, das hat was! Libertango sollten die Leut‘ jetzt tanzen, den Freiheitstanz. Als Zeichen des Protests gegen die Zustände im Land! Das Theater zu und das Konzerthaus, die Büchereien und Museen. Sicherste Orte! Das ist kein Leben mehr! Und Sterben darf man schon gar nicht. Verschlechtert die Statistik. Vom Altenheim. Solang man noch ein bissel schnauft, wird man mit Blaulicht von dort ins Krankenhaus gebracht. Den Tod, den haltet keiner mehr aus. Und wir werden gar nicht g‘fragt, wir Alten. Ob wir das wollen, wenn’s zu Ende geht. Aber an Schulmäderln reagieren sie sich jetzt ab. Kindsraub ist das, im 21. Jahrhundert! Kindsraub an der Gemeinschaft. Weil’s ein anderes Thema brauchen. Ablenken müssen vom BVT-Skandal. Vom Runtersparen bei der Impfstoffbestellung. Ablenken wollen von Korruption! Wer zwingt denn die Beamten im Ministerium, die Gesetze unmenschlich auszulegen? Gibt’s keine Kinderrechte, kein Kindeswohl in unser‘m Land? Mädchen, die in Wien geboren und groß worden sind! Bestens integriert. Die sind wohl nicht systemrelevant? Von Polizisten, mit Hunden bewaffnet, mitten in der Nacht aus den Betten g‘rissen und gleich Richtung Fremde transportiert. Deportiert!

Sie fingert nach einem Taschentuch und fährt sich über die Stirn. Wegen der öffentlichen Sicherheit, sagen’s jetzt. Ha! Die sind schon g’fährlich, die Mädchen. Lernen brav und lesen wohl zu viel. Betätigen sich vielleicht kreativ. Die Mutter ist schuld, meinen‘s. Aha! Weil sie sich eine bessere Zukunft für ihre Kinder wünscht? Um ein humanitäres Bleiberecht ang‘sucht hat? Verrückt ist das! Der Tag wird noch kommen, wo Hunde in der Mehrheit sind in unser’m Land. Von Wahlplakaten knurren werden. Und unsere Pensionen zahlen. Angeblich ist’s so kinderfreundlich, unser Land!

 

Eva Possnig-Pawlik (2021)