MITGLIEDER
Text von:Beate Kniescheck
Woran ich mich bis ins letzte Detail erinnere
Woran ich mich bis ins letzte Detail erinnere, ist die Nacht nach dem Tod meines Opas. Meine Oma sollte nicht allein sein, also übernachtete ich bei ihr. Ich war acht Jahre alt. Sie hatte mir das Bett im Gästezimmer vorbereitet, ich las noch in meinem Märchenbuch: Aber in der Ecke beim Hause saß in der kalten Morgenstunde das kleine Mädchen mit roten Wangen, mit einem Lächeln um den Mund – tot, erfroren am letzten Abend des alten Jahres. Ich hatte die Geschichte zu Ende gelesen hatte, da kam meine Oma herein und bat mich, bei ihr im Zimmer zu schlafen. Also stand ich auf und legte mich auf Opas Seite im Doppelbett, wickelte mich in seine Decke, ließ meinen Kopf in seinen Polster fallen. Ich konnte nicht einschlafen, stellte mir vor, dass ich im Bett versinken und nie mehr auftauchen würde, die Matratze würde mich schlucken und auflösen wie eine fleischfressende Pflanze. Meine Oma war noch wach. Ich sah sie nicht an, aber sie schnarchte, wenn sie schlief, und jetzt war nichts zu hören. Ich zog am Ärmel ihres Nachthemds und fragte, ob sie die Bettwäsche wechseln könne. Sie stand auf und zog die Decke ab, drehte das Licht aber nicht auf. Die Vorhänge waren nicht zugezogen, das Zimmer von einer Straßenlaterne schwach erleuchtet. Ich schaute aus dem Fenster zum Friedhof, man konnte den Platz unseres Familiengrabs erahnen. Es war noch nicht aufgegraben, aber ich wusste, dass mein Großvater bald dort liegen würde. Meine Oma hatte inzwischen alles frisch bezogen und sagte mir, ich solle wieder ins Bett kommen. Nach einer Weile stand sie nochmals auf, das weiße Nachthemd klebte an ihrem mageren Körper. Sie zog es aus und ich beobachtete, wie das fahle Licht ihren hängenden Busen beleuchtete, die schlaffe Haut am Bauch und an den Armen, die tiefen Falten im Gesicht. Ich fand, dass sie schön aussah, so schön wie die Frau in der Geschichte, die ich gerade gelesen hatte. In dem Glanz stand die alte Großmutter, so hell, so leuchtend, so mild. Langsam, als wäre sie in einem Film, der in Zeitlupe abläuft, öffnete sie den Kasten und streifte sich ein neues Nachthemd über, dann legte sie sich wieder hin. Ich konnte noch immer nicht schlafen, lauschte den Geräuschen draußen, dem Wind in den Bäumen, dem Schrei eines Vogels. Ein Auto fuhr vorbei, das an- und wieder abschwellende Motorengeräusch war gedämpft zu hören. Das Licht der Straßenlaterne schien auf die mannshohe Pflanze vor dem Fenster und warf Schatten an die Zimmerdecke. Irgendwann schlief ich ein.