MITGLIEDER

Text von:
Dorothea Macheiner

YVONNE eine recherche (textauszug)

MORT POUR LA LIBERTÉ las sie. ein RAI-sänger aus der kabylei war von der GIA entführt und erschossen worden. sie las den namen, den sie sogleich wieder vergaß, betrachtete das foto, das ihn umjubelt bei einem seiner auftritte zeigte. es war zu heiß, um sich in das vergilbte zeitungsblatt im sand zu vertiefen. sie suchte das datum der ausgabe. der mord hatte sich erst kurz vor ihrer ankunft ereignet.
beim mittagessen saß sie allein. der eindruck, die speisen wären noch geschmackloser als bisher. die wenigen gäste, die bedrückt herumschleichenden bediensteten. ihr blick streifte den leeren tisch neben dem saaleingang. dort hatte im vorjahr MONSIEUR X. gesessen. jetzt erst wurde ihr bewußt, daß sie in gedanken an den ermordeten sänger an der rue de petit port zwischen den mauern des aufgelassenen und des bewohnten hotels vorübergegangen war ohne etwas anderes wahrzunehmen als ein paar ausgefranste tamarisken im mittagslicht.
der wunsch das farbige kleinformat von "france soir" aufzuheben, sich dieses vergilbte dokument eines neuerlichen anschlags auf die persönliche freiheit anzueignen , wurde noch immer von der befürchtung aufgewogen, es könnten sich zwischen oder unter den blättern speisereste oder in verwesung befindliche exkremente verbergen, denn hierzulande blieb niemals etwas ungenützt und sei es auch nur zeitungspapier.
nach dem essen ging sie durch die leere halle über den geschwungenen prachtaufgang hinauf durch endlose,dämmrige korridore in ihr zimmer. es war dasselbe in dem sie letztesmal krank gelegen und im vorjahr MONSIEUR X. empfangen hatte. vom bett aus schaute man über die krone des johannisbrotbaumes auf den unbewohnten hoteltrakt. von der terrasse aus aufs meer.

vielleicht hatten die einheimischen dafür einen namen. sie fand keinen. fühlte sich zu dem patio- ähnlichen ort mit den uralten palmengruppen und der staubstraße zwischen den leerstehenden hoteltrakten hingezogen seit sie ihn zum erstenmal unter den augen des wächters betreten hatte. jenes wächters im kakaobraunen burnus und dem roten fez ,der auf einem tief in den sand eingesunkenen stuhl saß unter einem fensterlosen gemäuer , das an ein verließ erinnerte. auf sein nicken hin überschritt sie die unsichtbare schwelle zu dem magischen vieleck, das den patio ausmachte. von hier aus erblickte man am ende der mit tamarisken gesäumten staubstraße das meer. der ort war also gleichermaßen offen wie umschlossen von ockerfarbenen mauerschluchten meerwärts und asymmetrisch verschachtelten rückwänden der hoteltrakte, die die palmen umstanden wie einen binnensee. im dünensand eingegraben und um die stämme schlingernd, die piste, die den patio zur meer-und zur landseite offenhielt.

Quelle: YVONNE - eine recherche, edition doppelpunkt, Wien 2001