MITGLIEDER

Text von:
Sabine Scholl

DAS GESICHT, MIT DEM EUROPA SCHAUT (Fernando Pessoa)

Hinter den Plastikplanen leuchtet es abends bläulich, Lichtflecken, sich verschiebend, wiederaufhebend, wechselndes Muster von Abläufen, Bildern. Schatten hinter Plastik.
Als unten am Gehsteig jemand ruft, schlagen Männer die Plane zurück, drüben über dem ausgewaschenen Ladenschild in Rot: THE LE DER STORE, das A ist verschwunden; über dem unverglasten Fenster grüne Ornamente.
Solange es warm ist, sehe ich meine Nachbarn täglich und sie sehen mich, pfeifen, wenn ich vor die Haustür trete. Mit den ersten Frösten Mitte November sind sie fort. Zurück in den Süden. Die Fenster des heruntergekommenen Hauses bleiben dunkel. Das A fehlt, weiterhin.
In Wien hatten die Flüchtlinge vom Haus gegenüber zwar Glas in den Fenstern, doch vor Traurigkeit rissen sie sie auf, hängten ihre Oberkörper aus den Löchern und wiegten sich zu lauter Musik Sie haben mir auf den Tisch geschaut, ins verrutschte Gesicht, und ihre Rhythmen und Gesänge bohrten sich in meine Ohren ohne Sperren. Die Geographie des Balkans war nur eine Blickweite über die Straße entfernt.
Während in Berlin die Nachbarn nur so groß wie die Spitze meines Bleistifts waren, manchmal mit zwei Armen daran, Händen, die Zigaretten hielten und rauchten. Ein Adventkalender war ihr Haus, die Lichter gingen aus und an gegen Abend; keine Berührungen, keine Worte, keine Töne.


Es ist wie mit den Kleidern, die ich in Modemagazinen aufmerksam betrachte, wenn ich müde bin. Niemals werde ich eines davon tragen, wie ich weiß, und dennoch glaube ich daran, im Moment, wo mein Auge Umrisse nachfährt, Farben zusammendenkt, Schnitte übersetzt, bis zu den Frisuren und Gesichtern, die niemals meine sind. Trotzdem stecke ich darin, ich könnte schwören, und genauso streife ich die kaputten Gehsteige in Chicago entlang, umgehe tiefere Spalten, springe über großzügig gestreute Glasscherben zerschlagener Flaschen, weiche den mexikanischen Gesichtern unter Kapuzen aus, die GUERA, GUERA flüstern, vorbei an verriegelten Bars, Geschäften voll Southwestern-Cowboystiefeln, Fransenhemden mit Sonnenuntergang, vorbei an Verbotsschildern für Gangs und Drogen, vorbei an den schwarzen Fettrauchwolken der Taqueria, vorbei an der Fastfood-Hütte mit Holzdach, wo vor zwei Wochen die Schiesserei stattfand, ein Toter, ...