MITGLIEDER

Text von:
Rosmarie Thüminger

Im Tode sind die Naturgesetze aufgehoben (ausschnitt)

Zwei Kerzen zu Häupten, zwei Kerzen zu Füßen, in hohe Leuchter gesteckt, werfen ihre sanften Lichtkreise auf die dunklen Fliesen des Bodens. Man hat mir die Augen zugedrückt, aber der Tod verleiht die wunderbare Fähigkeit, durch geschlossene Lider, durch Bindegewebe und Materie zu sehen. Der Raum ist dämmerig, ich kenne die neuromanische Architektur der Kapelle nur flüchtig, denn zu Lebzeiten machte ich um Gewölbe dieser Art einen weiten Bogen. Die zwei Angestellten des Beerdigungsinstitutes haben mich vor zehn Minuten hierhergeschafft. Ich bin ja leicht, aber der Sarg ist schwer und sie haben geflucht. Ihre Mühe hat sich gelohnt. Die immergrünen Gewächse an der Seite, die Kränze und Blumengebinde am Fußende, die dicken Kerzen ordnen das bevorstehende Begräbnis eine höheren Kategorie zu. Ein Schatten verdunkelt den Eingang. Es ist Robert, der einen schweren Kranz schleppend, den Raum betritt. Was er nicht selbst erledigt, wird schlecht erledigt. Also placiert er den Kranz an einer ins Auge fallenden Stelle, ordnet sorgfältig die Schleife, auf der in goldenen Lettern zu lesen steht: Letzte Grüße Dein Dich ewig liebender Gatte Robert. Sein Anzug ist neu, seine Schuhe sind gebürstet, die schwarze Krawatte geknüpft. Doch er selbst schaut nicht gut aus. Schweißperlen stehen ihm auf der Stirn. Seine Wangen sind bleich und blutleer. Die Aufregungen der letzten Tage haben ihn hergenommen. Trotz der Schwitzerei jagen Schauer über seinen Körper. Außerdem hat er Hunger, sein Magen ist leer und knurrt. Wenn er sich erschreckt oder friert schrumpft sein Geschlecht. So auch heute. Ein heißer Tee würde ihm gut tun, Kamillentee mit Honig, ein wenig Fürsorge, ein bisschen Zärtlichkeit. Aber ich, die ich niemals seinen Ruf überhören konnte, stehe, da ich tot bin, nicht auf, um in die Küche zu eilen und Tee zu kochen. "Angelika", flüstert er, "Angelika." Er zieht ein Taschentuch heraus, tupft sich die Stirn ab, fährt sich über die Augen. "Warum hast du mich verlassen?" Die Frage ist typisch. Obwohl er stolz ist auf seinen analytischen Verstand, der ihn Zeit unseres Zusammenlebens befähigte, anfallende Dinge stets besser zu verstehen als ich, scheute er sich niemals, im höchsten Grade unsinnige Fragen zu stellen. Da ich nicht antworte, tritt er näher, murmelt nochmals "Angelika", faltet die Hände. "Angelika." (Ausschnitt)

Quelle: Sturzflüge Nr. 17