MITGLIEDER

Text von:
Gerold Foidl

Alleinsein


Er kam vom Bahnhof; die Reisetasche stellte er auf die Couch. Ohne sich aufzuhalten verließ er das kalte Zimmer in Richtung Zentrum. er ging abends häufig fort. Allein zu sein fiel ihm zunehmend schwerer. Im Moment wollte er zwar keine Menschen sehen, nur empfand er die Enge des Zimmers als noch bedrückender.
Sein Stammlokal war gesteckt voll. Er war froh, an der hinteren Theke einen Platz zu finden. Der Kellner war ein langhaariger Bursche, der untertags in einer Werkstatt arbeitete. Er brachte ihm das Obligate. Kleiner Brauner mit Doppelzucker. Wie es ihm zu Hause ergangen sei, erkundigte er sich. Ob er die Feiertage gut verbracht habe. Mit einer wegwerfenden Handbewegung antwortete er. Enttäuscht - Sie haben mich abgeschoben. Warum mußte ich nach fünfzehn Jahren dorthin fahren, was für sie das Zuhause ist? Was habe ich mir davon erwartet ... Meine Jugend zu finden? Vater freute sich über das Wiedersehen. Bleierne Befangenheit befiel uns auf der Heimfahrt. Ich hörte ihm zu. Seine vertraute Stimme ... Leicht schnarrend, gedehnt; er spricht langsam. Mit kraftlosen Worten, deren Sinn seinen Kopf nicht mehr ganz erreicht. Ihm sind sie vertraut. Er machte sich wahrscheinlich nie Gedanken, was sie bedeuten. Er ist jetzt ein alter Mann, der zu viel an den Tod denkt. Alle schienen sich über mein Kommen zu freuen: Erna, seine zweite Frau, und Renata, meine Stiefschwester. Sie dachten, ich müsse es wie sie als Ereignis empfinden, nach so langer Abwesenheit wieder gemeinsam mit der Familie Weihnachten zu feiern. Sie waren rührend in ihrer fiebrigen Erwartung. Wie sie die Geschenkpakete aufbanden; wie Kinder. Jeder hatte ein kleines Geschenk für mich gekauft. Ich hätte es wissen sollen ... Was machte ich vierzehn Tag in diesem Nest. (Dazu kam es gar nicht.) (S. 43)


Quelle: "Standhalten", © 1999, Edition Löwenzahn, Innsbruck.