MITGLIEDER

Text von:
Florian Gantner

73 Menschen, einige davon fiktiv, andere tot (Auszug)

Mirko setzte sich auf eine Eckbank, von der aus er das Kaffeehaus überblicken konnte. Er bestellte ein Glas Rotwein und schlug das Notizbuch auf. Ihm war eine neue Zeile für sein Gedicht eingefallen. Er notierte deine Pupillen als könnten sie brechen im Vorsatz, die Zeile später an die zwei anderen anzuhängen. Danach ergänzte er die Hassenswert-Liste mit geschwätzigen Dentisten (70) und begann mit einer anderen:
1 Ferdinand
Mirkos Zeigefinger spielte mit der tauben Gesichtshälfte, während er eine deutsche Tageszeitung durchblätterte. Ein Artikel betonte, wie wichtig es sei, den syrischen Diktator seiner Macht zu entheben. Wenig später wurde eingeräumt, dass man sich nicht sicher sein könne, ob die Beweggründe der Rebellen rechtens seien. Auf der nächsten Seite wurde die Krise in der Ukraine beleuchtet. Experten verurteilten den russischen Aggressor, in der nächsten Zeitung las Mirko wiederum einen Text über das stereotype westliche Bild des Russen.
Mirko fühlte sich befangen. Es gab so viele Meinungen und so wenige unwiderlegbare Fakten. Er überlegte, ob dieses Gefühl, das er in sich wahrnahm, nicht auch in der zeitgenössischen Literatur zu finden war. Er war sich nicht sicher, ob er diesen Gedanken irgendwo gelesen hatte oder ob er gerade in ihm selbst entstanden war, jedenfalls dachte er, dass die aktuelle Literatur diese Unklarheit oftmals spiegelt beziehungsweise dass dies ein Parameter für gute Literatur sei: Unter der Oberfläche sollte eine Handlung existieren, deren Abwesenheit oder Nichtversprachlichung den Leser unsicher zurücklässt. Eine Literatur, die einer Gegenwart der Überwachung und der paranoiden Weltwahrnehmung entspricht. Mirko hatte auch gleich einen Begriff dafür gefunden: Paranoia-Prosa.
Unverständliche Gesprächsfetzen und klapperndes Geschirr füllten den Raum und drangen zu ihm. Das Geräusch eines Polizeieinsatzes bewirkte einen Satz, der sich Mirko aufdrängte, und den er in sein Notizbuch schrieb: Der rhythmische Ton einer das Kaffeehaus passierenden Sirene entsprach dem Quietschen einer Bettfeder.
Die Paranoia-Prosa lässt den Schreibenden zurückschlagen, nahm Mirko seinen kurz fallen gelassenen Gedankenfaden wieder auf. Der Verfasser von Paranoia-Prosa lasse nicht mehr erzählen, sondern schlage zurück. Er reiße die Erzählung an sich und unterwandere eine unverständliche Welt mit Unklarheiten.
Zwischendurch brachte der Ober, dessen Name auf einer angesteckten Plakette zu lesen war, den Rotwein. Der Wein roch nach alten Erdbeeren, feuchter Erde und, Mirko konnte sich nicht helfen: einem Hauch von Autolack. Er nahm einen Schluck und bemerkte ein loses Stück in seinem Mund. Mit der Zungenspitze holte er es aus einer Zahnhöhle und mit dem Zeigefinger aus dem Mund. Er betrachtete es aus aller Nähe: ein Loewe Xelos, ein exaktes Miniaturmodell des Fernsehapparates, der in seinem Schlafzimmer stand. Sogar der Bildschirm, eine grau glänzende Fläche, war zu erkennen. Mirko legte das Stück auf den Tisch. Er trank einen weiteren Schluck und sah sich um. Eine Frau, die ihn an Sandra erinnerte, lief ihm aber erst wieder draußen auf der Straße über den Weg.

(Auszug aus dem Projekt: 73 Menschen, einige davon fiktiv, andere tot)