MITGLIEDER

Text von:
Sarah Rinderer

Auszug aus der Erzählung „das blinken der windräder vor paris“

gute fahrt, wünscht der schaffner und gibt oskar und philomena die fahrkarten zurück. oskar hat seine mütze an den haken über dem sitz gehängt, philomena die handbremse des rollstuhls angezogen. wie fühlt es sich an?, fragt philomena und meint den sitz der ersten klasse. wie das leise knacken eines datums auf der tonspur, sagt oskar und meint das fahren an sich. philomena dreht sich zum fenster. oskar sieht ihre spiegelung gegen die fahrtrichtung. ihr mund ist ein bis-strich. das wann hängt im rechten mundwinkel.

oskar faltet philomenas hände. streckt ihre arme. fährt mit den fingern die brüchige zackenschrift ihrer adern entlang, hinab bis zum schlüsselbein. seine nase berührt die fallschirmseide ihrer halsbeuge. riecht nach essig. vielleicht ist es aber auch sein eigener schweiß. das taschentuch ist nass. oskar winkelt philomenas beine an. seine hand auf ihrem oberschenkel, auf ihrer hüfte. mit der anderen umfasst er ihre schulter, drückt sanft. wenn oskar philomena vom rücken auf die seite dreht, denkt er an das schmale skelett eines windrads, bis wann.

ein datum flimmert von unten nach oben durch die bilder. man weiß nicht, wo der film aufhört oder wieder neu beginnt, sieht nur, wie die zeichen mit der zeit verschwimmen. wo sie die tonspur überlagern, knackt es leise.

über die querschwellen rattert der nachtzug nach paris. der atem einer schlafenden person auf dem nebensitz. der hellblaue vorhang wird zur seite gezogen. windräder, die beinahe stillstehen in unscharfer landschaft. sekunden als rote blinklichter. dann schnitt.
die windräder sehen aus wie knöcherne riesenwesen, irgendwie einsam, meint philomena. vielleicht sehen sie von da oben aus schon paris. ­das war unsere letzte größere reise, sagt oskar, das war schön, als einziger wach zu sein. ich hab angst davor, sagt philomena und gibt ihm einen kuss auf die wange, vor dem allein sein, meine ich. sekunden als rote blinklichter. dann schnitt.

wie wenig platz wir auf der gepäckablage brauchen, sagt oskar. auch philomena schaut nach oben. dass du mir auch nichts vergessen hast. fältchen im leder. auf philomenas wange, dasselbe gefühl nach abgegriffener landkarte, wenn man mit dem finger darüberstreicht. wenn sich der zug in die kurve lehnt, hören oskar und philomena das leise aneinanderstoßen zweier filmdosen. nein, sagt er, alles dabei. vielleicht wird man über die jahre zur reisetasche des anderen. gefüllt bis zum rand mit umgespulten erinnerungen. sekunden, die man sonst aus dem film herausschneidet.