MITGLIEDER

Text von:
Monika Gentner

Auf dem Weg zu Einer Welt

"Preserving our individual freedoms ultimately requires collective action."
Barack Obama, Inaugural Address, 2013


Am Montag, den 24. November 2070 morgens trafen einander Susanne Rist und Wolfgang Lamper in Wien, USE United States of Europe. USE-Nationalstaaten gab es seit den dreißiger Jahren des 21. Jahrhunderts nicht mehr. Die Hauptstadt der Vereinigten Staaten von Europa war Brüssel geblieben und viel vom Demokratiedefizit, das an der früheren Europäischen Union kritisiert worden war, war beseitigt.

Susanne Rist und Wolfgang Lamper besprachen unter anderem die nächsten Schritte ihrer suprastaatlichen NGO CP-Collective Protest1 zu ihrem zweijährlichen "Eine-Welt-Fest" auf den Grünflächen und in den Parks vor der Wiener Hofburg für den 20. April 2072, einen Sonntag.

In vielen Sprachen waren zum Eine-Welt-Fest alle Menschen, egal welcher Herkunft, eingeladen, die die Werte einer offenen, demokratischen Zivilgesellschaft teilten. Festlich gedacht wurde der Freiheit, Gleichheit und Solidarität aller Menschen weltweit. Papiere zählten nicht, um die Nicht-Europäer in Europa kämpfen mussten. Denn nach Susannes Ansicht konnte man jeden liberalen Menschen als Bereicherung erfahren.

Am Sonntag zuvor war Susanne spazieren gegangen. Ein sehr junger Mann mit einem Tirolerhütchen auf dem Kopf war vorgesprungen und hatte sie angesprochen: "Guten Morgen, gestatten: Ferdinand Retropist. Wir werden noch von einander hören." Das versprach viel Krawall auf dem Eine-Welt-Fest von den nationalistischen, reaktionären Retropisten, einer Jugendbewegung. Einige Jugendliche traten darin für eine Rückkehr zum Nationalstaat, den sie selbst nie erlebt hatten, die Einheit des Volkes und "kulturelle Hegemonie", das heißt einen Führungsanspruch, ein.

Die tendenziell autoritäre Retropistenbewegung erzählte den Leuten, wie gut die gute alte Zeit der Nationalstaaten gewesen war. Wie wichtig eine Heimat ohne "Ausländer" und Migranten, die ihr wie selbstverständlich als Sündenböcke und Ausbeuter des USE-Sozialsystems herhalten mussten. Wahrscheinlich wussten sie nicht, dass im Wort "Heimat" entwicklungsgeschichtlich auch das Wort "Einöde" wurzelte. Retropisten phantasierten von einem Volk, ausgrenzend und rassistisch nah an einer Vorstellung eines "reinen Volkskörpers".

Die kleine Retropistenbewegung wäre in einem breiten Meinungsspektrum voll durchaus auch seltsamer Vorstellungen nicht weiter auffällig gewesen, hätte Europa nicht handfeste historische Gründe zur Sorge gehabt.

Weiters sass eine "Heimatpartei" im europäischen Parlament, die ein schlampiges Verhältnis zu den Retropisten pflegte. Sie beschimpfte Parlamentsmitglieder als "Asylchaoten" und lehnte die USE als Einwanderungsregion, die sie war, ab.

Susanne bevorzugte Freunde und Freundinnen aus aller Welt; es zählte der integre Mensch, mit dessen Sein so sensibel umzugehen war wie bei Freundschaften üblich. Es zählten neben einer offenen, demokratischen Gesinnung, Legalität, Vertrauen und Verantwortung, gleiche Rechte und Pflichten.

Die meisten der MehrländerInnen - wie sie Susanne zu nennen pflegte - waren in der Regel strebsam und arbeitsam in großteils miesen Jobs; sie zahlten beträchtliche Summen an Steuern und Sozialabgaben, fuer ihre Weiterbildung und ihr Zuhause in der USE.

Z.B. "Daham2 statt Islam" hatte hingegen die "Heimatpartei" einst plakatiert, dabei auf Konnotationen von Geborgenheit und Sicherheit des Daheims3 setzend, letztere brachten MehrländerInnen angeblich ins Wanken.

Susanne empörte ein Heimatbegriff, der Migranten, ob MuslimInnen oder nicht, quasi mit aller Kraft inhärent verbot, ihr neues Aufenthaltsland als neue Heimat zu betrachten, indem sie gedanklich von diesem wieder und wieder in ihre alte Heimat zurückgestossen wurden, ob nun MehrländerInnen das wollten oder nicht. Geflissentlich übersah die Heimatpartei auch jene nicht geringe Anzahl an MehrländerInnen, die wegen europäischer Werte hierher gekommen waren.

Leider glaubten zu viele Leute den systematisch rechtsschlüpfrigen Parolen der Heimatpartei, oder waren zumindest sich selber gegenüber unehrlich genug, um ihrer eigenen Trägheit, Engstirnigkeit und Feigheit ins Auge zu sehen. Ein Wirtschaftsjournalist hatte in diesem Zusammenhang von der Gefahr einer "Prolokratie"4 bildungsferner Schichten geschrieben, deren "Jessicas" und "Kevins" auf dem Weg zur Mehrheit im 21. Jahrhundert seien.

Provokanten Schauspielen - statt pluralistischer Wertepolitik - nie abgeneigt, schäumten soziale und Massenmedien die Melange der Befindlichkeiten weiter auf, indem sie erwünschte, verstörende Meldungen brachten, vor allem solche, die die Ängste bildungsferner "Jessicas" und "Kevins" schürten. Die "Ausländer" - was soll das, meinte Susanne, "Ausländerin" bin ich fast überall - bedrohten quasi jedermann und jederfrau. Auch nähmen sie "Jessica" und "Kevin" die Jobs weg5 , so sie welche hatten. Sie waren schuld an der gewiss baldigen Unfinanzierbarkeit des USE-Sozialsystems, von dem "Jessica" und "Kevin" nicht selten profitierten. Schlechthin war "Ausländern" nichts Gutes zuzutrauen, wenn sie nicht gar das Böse an sich verkörperten.

Am Abend des 10. Dezember tötete die islamistische Terroristin Asifa Khatib 14 BesucherInnen eines Wiener Marktes und verletzte über dreißig weitere.

Niemand hatte behauptet, dass es keine Spannungen und Probleme gab, keine EinzeltäterInnen und Splittergruppen, keine Staaten und Staatsgemeinschaften, die eine säkulare Gesellschaft mit dem gedanklichen Hintergrund der französischen Aufklärung hassten. Die Täterin hatte sich vor Gericht zu verantworten. Punkt.

Der massenmediale Boulevard überbot sich selbst an Schlagzeilen. Die Retropistenbewegung und die Heimatpartei hatten es "immer schon" gewusst.

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1 Über die Ziele und Absichten von CP-Collective Protest informieren andere Abschnitte des Textes.
2 wienerisch fuer: daheim
3 Die Polizei wusste, dass "Daheim" so ziemlich der gefährlichste Ort war für die am weitesten verbreiteten, kriminellen Beziehungstaten.
4 Ortner Christian: "Prolokratie - Demokratisch in die Pleite", Wien 2012 (edition a)
5 Zweifelhaft blieb Susanne, ob "Jessica" und "Kevin" viele Jobs der Mehrländer gewollt hätten.

Textbeispiel aus der Lesung "Freiheit des Wortes" 05/2019