MITGLIEDER

Text von:
Sandra Weihs

Auszug aus dem Romanprojekt Durchschummler (AT)

Ins Bett gehen ist schwer für Katja. War es immer schon. Aber in letzter Zeit ist es schlimmer geworden. Hinten im Genick spürt sie das Sollen. Das Müssen. Die Stimmen ihrer Kindheit. Katja, geh jetzt ins Bett. Katja, du musst jetzt schlafen. Katja, morgen musst du fit sein, du sollst früh ins Bett gehen. Aber vorne, an der Brust, im Bauch, an der Stirne, da zieht es sie hin zu einem Mehr. Zu einem Irgendwas, das noch nicht passiert ist an diesem Tag. Zu einem Mehr an Substanz. An Sinn. An Leben. Deswegen läuft der Fernseher auf stumm. Und die Musik in den Kopfhörern. Und eine Kerzenflamme tanzt am Tisch. Neben den Bleistiften, Pastellkreiden und der Tusche. Den Finelinern und dem leeren Papier. Deswegen glimmt der letzte Joint im Aschenbecher. Katja nimmt einen Schluck vom Bier. Irgendwas muss doch. Irgendwie muss ich doch irgendetwas hinbekommen. Es ist doch nicht so, dass ich nichts könnte. Das ich nichts wüsste. Das ich nichts zustande bringen würde. Irgendwas ist doch in mir, das da raus muss. In diese Stifte hinein. Auf dieses Blatt Papier. Ich kann es doch fast greifen. Zwischen mir und diesem Blatt Papier ist doch irgendwas. Da hängt was in der Luft. Es vibriert. Es strahlt. Aber ich greife es nicht. Ich erwische es nicht. Das denkt Katja und zieht am Joint. Der beruhigt. Sie weiß, sie kann etwas. Katja ist sich sicher. Katja weiß, sie hat etwas zu geben. Sie wird auch etwas geben. Wird irgendwann dieses weiße Blatt Papier füllen. Und es wird dann da sein, was sie zu geben hat und wird gesehen werden. Von irgendwem. Weil das, was zwischen ihr und dem Papier steht, das steht nicht nur zwischen ihr und dem Papier, das steht zwischen vielen Menschen und dem Leben. Das ist da, schon viel länger als sie es ist. Das ist da, und wird immer wieder angegriffen. Und dann begriffen. Und übersetzt. Und für andere begreifbar gemacht. Katja weiß, sie hat Zugang. Sie muss nur noch begreifen und übersetzen. Aber heute ist es wohl zu spät. Heute sollte sie ins Bett gehen. Sie spürt es im Genick. Sie muss aufstehen morgen. Sie muss fit sein. Muss ihren Vater sehen, dafür muss sie fit sein. Katja weiß nicht, was sie zuerst ausmachen soll. Das Fernseherlicht oder die Musik. Das Kerzenlicht oder den Joint. Wird sie sich einsamer fühlen, wenn sie zuerst den Fernseher ausmacht oder zuerst den Joint? Sie bläst die Kerze aus. Macht dann den Fernseher aus. Nimmt noch einen Zug vom Joint. Nimmt das Handy. Mit den Kopfhörern im Ohr steht sie auf. Geht sie ins Kammerl, wo Motte schläft. Legt sich ins Bett. Kuschelt sich an ihn. Dann erst zieht sie die Kopfhörer aus den Ohren und stoppt die Musik. Das Ticken der Uhr im Wohnzimmer. Katja muss endlich eine andere Uhr besorgen. Dieses Ticken macht sie noch wahnsinnig.