MITGLIEDER

Text von:
Peter Campa

Auf der Reise (Auszug)

Als Kind glaubte ich, daß im achten Wiener Gemeindebezirk, der Josefstadt, die meisten Geisteskranken zu Hause seien, da ich dort oft spazieren ging und die meisten Gesichter dort verkniffen waren. Einmal, als ich zehn Jahre alt war und zu meiner Großmutter ging, begegnete mir in der Josefstädter Straße eine Frau mit einem Turban und sagte zu mir: "Du bist ein schönes Kind, ich war auch einmal schön, ich bin nämlich die Enkelin vom Kaiser Franz Joseph, da kannst du dir denken, wie schön ich war." Ganz anders fühlte ich mich in Floridsdorf, das mich schon aufgrund der Schnellbahn sehr begeistert hat. In der vierten Klasse Volksschule waren wir zum ersten Mal dort. Bei diesem Lehrausflug erläuterte ein ÖBB-Beamter das Bahnwesen in Floridsdorf. Man müsse viel lernen, bevor man Lokomotivführer werden könne, denn eine Lokomotive koste elf Millionen Schilling. Ich fuhr bald wieder nach Floridsdorf . Zuerst wollte ich mit meinen Eltern fahren, aber, da mein Vater nie dorthin fuhr und schon gar nicht meine Mutter (ich habe immer nur Abfälliges von meiner Mutter über Floridsdorf, Donaustadt und überhaupt Transdanubien gehört), begann ich zu sparen, und als ich einen Schilling beisammen hatte, fuhr ich mit dem Fünfer (das war damals ein innerstädtischer Autobus) durch die Marchfeldstraße zum Friedrich Engels-Platz, wobei ich mich sehr wunderte, daß in der Marchfeldstraße gar nichts vom Marchfeld zu sehen war. Auch Simmering hat mich fasziniert, seit ich denken kann. Nicht nur die stehende Phrase von der "Simmeringer Wasserleitung", die zu mannigfachen Assoziationen Anlaß gibt, sondern vor allem das gedehnte, öde Feld gibt einem mitunter neue Impulse. Die Simmeringer Haide, seltsamerweise mit "ai" und nicht "ei", enthält zahlreiche interessante Einzelheiten, die von der Fremdenverkehrswerbung übersehen werden, Dabei ist Simmering stellenweise einer der schönsten Bezirke, wenn auch die Luft ziemlich industrieverseucht ist. Kaiser-Ebersdorf, wo Generationen von Schwererziehbaren ihr neues Zuhause gefunden haben - früher hieß das "Heim", heute Jugendstrafvollzugsanstalt , Albern, das Blaue Wasser, der Friedhof der Namenlosen, alles das ist und bleibt Wien, wie es ist. Zwischen Simmering und Favoriten ist ein großes, weites, mit Getreideähren übersätes Feld, die sogenannte Hasenleiten. Im Stadtplan finden sich noch nähere Definitionen wie "Abraum" und "Heidel", die ihrem Namen zum Trotz ganz gewöhnliche Wiesen und Felder sind. Hier sind übrigens die Frauen sehr sexy. Als Kind bin ich nie dorthin gekommen. Wenn meine EItern, was selten genug war, einen Ausflug machten, ging es nach Pötzleinsdorf, Sievering, Salmannsdorf oder eventuell Neuwaldegg, nie jedoch in den Böhmischen Prater, der jetzt übrigens ein eigenes Riesenrad erhalten haben soll, um eben ein richtiger "Prater" zu sein, ein eigenartiges Gemisch von Willenlosigkeit und paradoxer Lebenslust. Als ich noch jung war, gab es am Gaudenzdorfer Gürtel auch einen ganz kleinen Prater unter dem Stadtbahnbogen, Dort bemerkte ich zum erstenmal, wie sich ein Mädchen ausgreifen ließ, aber nicht von jedem, denn sie sagte zu einem Mann, den ich nicht genau sah: "Der Hansi derf, aber du net".
Als Kind war ich ein praktizierender Katholik, was ein Handikap war, denn da konnte man die Dinge nicht so sehen, wie man gerne wollte, gleichzeitig aber zur Ausbildung von Phantasie nicht wenig beigetragen hat. Ich hatte oft "böse Gedanken", die ich, als ich älter wurde, in "dumme Gedanken" umbenannte, was sich aber in der Wien-Betrachtung auflöste: Wien ist anständig und zugleich unanständig. Hier sind Gut und Böse eins. Quelle: Auf der Reise, Triton Verlag, Wien 1995