MITGLIEDER

Text von:
Judith Gruber-Rizy

Auszug aus "Zwischen Landschaft"

Hin und zurück

Immer schon fuhr Rosa gerne mit dem Zug. Fuhr dahin und dorthin, fuhr aber vor allem hin und zurück. Und brauchte lange, um zu begreifen, dass sie am liebsten zwischen dem Hier und dem Dort war, im Dazwischen also.
Als Kind, berichtet Rosa, so irgendwo zwischen fünftem und vielleicht zwölftem Lebensjahr, die Zugfahrten mit der Großmutter in den Ort der frühen Kindheit, fünf Stationen hin und fünf Stationen zurück. Und auch die Fahrten mit der Großmutter zur Großtante, neun Stationen hin und neun Stationen zurück.
Und einmal mit der Mutter in den Ort der frühen Kindheit. Im letzten Waggon, ganz hinten, mit Blick zurück auf die Gleise. Und draußen sonnenbeschienene Wiesen.
Rosa am liebsten also mit dem Zug unterwegs. Hinfahrt, Rückfahrt, stundenlange Zugfahrt. Lesen, aus dem Fenster schauen, essen, trinken. Frühling, Sommer, Herbst, Winter. Am liebsten bei Schneetreiben, alles nur weiß-grau, Schneeflocken stöbern am Fenster vorbei, rasendschnell. Am liebsten bei Regen, Regenstriche. Am liebsten bei Überschwemmung, links und rechts brauner Brühensee, Straßen unter Wasser, Bauernhöfe mitten im See. Am liebsten im Sommer mit grünen Wiesen.
Dabei war für Rosa die Frage des Hin lange Zeit klar definiert. Hin war nach Hause, daran gab es keinen Zweifel, da musste Rosa nicht nachdenken, das war so und für Rosa nicht anders denkbar. Hin war nach Hause, das sagte Rosa auch, zu anderen, zu sich: nach Hause fahren. Eine eindeutige, klare Aussage, nicht in Frage zu stellen, von niemandem, am allerwenigsten von Rosa selbst.
Das Zurück blieb dabei undefiniert, weil lange, vielleicht allzu lange, unhinterfragt. Und tatsächlich hatte das Zurück keinen Namen, keinen richtigen jedenfalls, der mit dem Wort Zuhause vergleichbar gewesen wäre. Zurück, das war einfach nur die Stadt, ein Name, austauschbar sogar, irgendein Name, vielleicht noch ein Hinunter hinzugefügt, weil flussabwärts, aber bei allen Hinzufügungen nicht mehr als ein Name, keinesfalls die Definition eines Zustandes. Und vor allem nicht Zuhause.

Quelle: Zwischen Landschaft; Edition Innsalz, Aspach-Wien-Meran  2006